Zwischen den Kapiteln
Ich stehe unter der Dusche, während im Hintergrund Musik aus meinem Smartphone dudelt. Ich höre die ersten Akkorde meines Lieblingsliedes. Meine Mundwinkel beginnen zu zucken, ich hole tief Luft, schließe die Augen und mein Körper macht sich bereit für die in wenigen Sekunden beginnende Performance. Im Einklang mit der Melodie werden die kurzen Haare shampooniert, und im Rhythmus seife ich meinen mit Narben versehenen Oberkörper ein, während sich meine angeschlagene Lunge bereit macht und meine kratzige Stimme alles gibt: “but it’s just the price I pay. Destiny is calling me. Open up my eeeeeeeeeeager eeeeeeeeyes – ’cause I’m Mr. Brightsiiiiiiiiiide”.
Nachdem das nächste Lied abgespielt wird, schmunzele ich über mein kindisches Verhalten. Ich fühle mich euphorisch. Glücklich. Sorglos.
“Wie früher”, denke ich bei mir. Es gibt ein bestimmtes “Früher”. Ein sorgloseres, glücklicheres.
Und noch im selben Moment wandern meine Mundwinkel abwärts, synchron zu den sich verdüsternden Gedanken. Vor meinem schlagartig weit aufgerissenen inneren Auge spielen sich unzählige Ereignisse der vergangenen Zeit ab.
Es überkommt mich. Wieder einmal. Mein Körper spannt sich unvermittelt an. Die Kieferknochen treten durch die fest aufeinander gepressten Zähne hervor.
Es ist viel. Zu viel. Zu viel Chaos. Es wird laut im Kopf. Viel zu viel, viel zu laut. Ich kanns nicht aufhalten. Und erst recht nicht aushalten. Es ist zu viel.
Die Unbeschwertheit, die ich für einen Moment wieder so deutlich spüren durfte, ist genauso schnell verschwunden, wie sie kurzzeitig in mir aufblitzte. Plötzlich verpufft in der dunklen Gefühlswelt, die mich immer wieder einholt.
Ich stehe unter der Dusche, während im Hintergrund Musik aus meinem Smartphone dudelt. Und mir wird bewusst, dass ich mein Leben fortan in ein Vorher und ein Nachher klassifizieren werde.
Vor dem Krebs. Und… mit dem Krebs. Ob es jemals ein wirkliches Danach geben wird, bleibt abzuwarten. Für den Moment gibt es nur ein “nach der Krebsdiagnose”. Meine neue Realität.
“Jetzt kannst du doch nach vorne blicken.”
“Es wird Zeit, das alles hinter sich zu lassen!”
“Das Leben geht weiter.”
“Kannst du denn an nichts anderes mehr denken?”
Solche oder so ähnliche Sprüche habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten massenhaft hören dürfen. Doch so einfach ist es nicht.
Ich verstehe, dass sich viele – bleiben wir bei der Wahrheit – ausschließlich alle meine Angehörigen die “alte Tina” zurückwünschen. Denn die neue ist nochmal um einiges komplizierter. Anstrengender. Aber das ist mein Leben heute eben auch geworden.
Es ist nicht so, als habe man sich im Skiurlaub einen Arm gebrochen, der eine Weile zum Heilen braucht und mit der Zeit wird der Sturz, der Krankenhausaufenthalt und die nervige Zeit zuhause zu einer interessanten Winteranekdote, während das Leben wie zuvor weiter verläuft.
Es ist vielmehr so, dass einem mehr oder weniger aus dem Nichts erklärt wird, dass sich die Prioritäten des Lebens ändern werden.
Denn aus
Wo werde ich in fünf Jahren sein?
wird
Werde ich in fünf Jahren noch sein?
Man begräbt Zukunftspläne. Und gibt so viel auf.
Man ändert seinen Kurs. Dabei bleiben nicht selten viele Freundschaften auf der Strecke.
Man befindet sich in Lebensgefahr. Monate- und sogar jahrelang.
Man lernt mit der Todesangst zu leben.
Und kämpft sich zurück aus einem Überlebensmodus in einen Lebensmodus. Einen gänzlich neuen.
Die große Herausforderung nach dem Überlebenskampf – im Nachher – besteht darin, zurück in eine Art Normalität zu finden.
Das traumatische Erlebnis zu verarbeiten, schwere Gedanken und Gefühle zu überwinden und Narben, die Körper und Geist hinzugefügt wurden, die nötige Zeit einzuräumen, um verblassen und heilen zu können. Geduld spielt dabei eine große Rolle. Geduldig und liebevoll, wertschätzend und achtsam mit sich umgehen. Und all die guten Ratschläge des krebsmuggeligen Umfeldes nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Die meisten sind ja tatsächlich gut gemeint. Und den Rest gilt es sowieso auszumisten. Emotional wie physisch.
Es ist nicht einfach Vergangenes auszublenden. Es war mitunter ein sehr dunkles Kapitel. Und die dunklen Flecken sind nicht nur bei der Wäsche immer die problematischsten. Ein dunkler Schleier bleibt eben oft zurück. Und bestimmt dadurch auch das Jetzt ein Stück weit.
Der Umgang mit Außenstehenden und Angehörigen fällt mir dabei besonders schwer. Ich versuche mich in deren Lage zu versetzen und über vieles hinwegzusehen. Denn mein Ziel ist ein glückliches Leben, in dem die Sorgen keine Hauptrolle mehr erhalten. Ich möchte nicht die dauerhaft gekränkte, verletzte, unverstandene Krebspatientin mit veganer Extrawurst sein. Vielmehr will ich wieder Tina sein.
Nicht mehr dieselbe. Aber ein Update meiner selbst. Tina 2.0. Verbesserte Kompatibilität mit verschiedenen Krebsmuggeln, neue Funktionen im Hinblick auf den Umgang mit dem Schicksal und der eigenen Prognose und mit einigen wichtigen Sicherheits- und Gesundheitskorrekturen. Meine Firewall gilt es noch weiter auf- und auszubauen.
Viele Personen aus meinem engeren Umfeld wissen beispielsweise, dass ich nichts mehr liebe, als ein gutes Buch in der Badewanne. Und so erhielt ich so, so viele Pflegeprodukte und Badezusätze in vergangener Zeit. Zum Teil sehr hochwertig.
Vorher
freute ich mich riesig über eine solche Aufmerksamkeit.
Nachher
werde ich das meiste davon nie verwenden können aufgrund der Inhaltsstoffe. Über hautunverträgliche, krebserregende bis hin zu hormonellen Zusatzstoffen, die mir in meiner Situation alles andere als gut tun.
Ich sollte es ansprechen. Und gleichzeitig möchte ich mit meinem Umfeld nicht dauernd über Krebs und all die Folgen sprechen. Damit biete ich die perfekte Steilvorlage für die oben genannten Sprüche, die ich schon lange nicht mehr hören kann.
Nicht anders verhält es sich mit Essenseinladungen bei Herzensmenschen.
Vorher
Große Freude über die Einladung, Vorfreude auf das leckere Essen und einen angenehmen Abend.
Nachher
Während der Therapie habe ich meine Ernährung umgestellt und angepasst. Vieles aus gesundheitlichen Gründen, einiges, weil ich es schlichtweg nicht mehr vertrage. Wie nehme ich also eine Essenseinladung freundlich an, ohne meine Krebserkrankung bzw. deren Folgen wieder direkt zu thematisieren?
Es gibt etliche Beispiele dafür, dass das Thema Krebs, ob ich es nun möchte oder nicht, in meinem Nachher viel Platz einnimmt und das vermutlich auch künftig tun wird.
Ob es nun medizinisch folgerichtige Themen, wie regelmäßige Nachsorgeuntersuchungen sind, die mich aus einem normalen Arbeitsalltag herausreißen.
Oder sehr persönliche, zwischenmenschliche Themen, wie Konzentrationsschwächen bei Gesprächen, frühes Verabschieden aufgrund von Fatigue oder Gesprächsthemen, wie Familienplanung, bei welchen ich schlicht nicht mitreden kann.
Bis hin zu Retraumatisierungen, wie meine neuerdings auftretende Phobie, Telefonate entgegenzunehmen, weil mich direkt die Panik vor einer weiteren Diagnosestellung, vorgetragen von einer desinteressierten, müden Männerstimme, ergreift.
Also fokussiere ich mich weiter auf mich und meine Heilung. Gebe all diesen Gedanken und Gefühlen den Raum. Verurteile mich nicht dafür, dass ich aus der Betrachtungsweise eines Krebsmuggels mich noch viel zu sehr in der Krebs-Bubble aufhalte.
Krebs ist nun ein Kapitel meines Buches. Und wer mein Buch nicht vollständig, von vorne bis hinten, lesen möchte, wird die Zusammenhänge meiner Geschichte vermutlich auch nie verstehen.
Ende. Vorerst.