Erleichterung vs. Belastung
Das leere Glas
Wie denkst du darüber?
Kürzlich wurde ich gefragt, ob sich die Lebenseinstellung nach einer solchen Erfahrung, die ich gemacht habe, nicht ändert.
Die fragende Person blickte mich offen an und nickte während sie sprach. So, als hätte sie die Frage für mich im Geiste bereits beantwortet und warte nun lediglich auf meine Bestätigung.
Irgendwie gefiel mir das nicht. Vieles daran.
Ich konnte keine klare Antwort darauf finden.
Warum?
Also hörte das philosophische Ich tief in mich hinein …
Trotziges Ich wollte aus Prinzip den Kopf schütteln.
Trauriges Ich wollte Tränen über Erlebtes vergießen.
Zuversichtliches Ich wollte daran glauben.
Wütendes Ich wollte, dass sich die Person um eigene Angelegenheiten kümmere.
Skeptisches Ich fragte sich, woher die Person das denn nun wissen wolle.
Nachdenkliches Ich wollte wissen, warum die Person denn unbedingt ein Ja hören wollte.
Mitfühlendes Ich wollte der Person zustimmen.
Glückliches Ich konnte einen Funken Wahrheit darin erkennen.
Traumatisiertes Ich schrie ganz laut.
Müdes Ich winkte ab.
Verwirrtes Ich stampfte laut auf, denn es wollte die Frage schon so lange beantwortet wissen.
Meine Reaktion ließ nun schon unangenehm lange auf sich warten. Also löste ich mich aus meiner Starre, ließ meine Schultern weit hoch wandern, legte meine Stirn in Falten, atmete geräuschvoll aus und ließ meinen Kopf sanft schüttelnd Richtung Boden senken, in der Hoffnung, damit ausreichend reagiert zu haben und der Frage so nun entkommen zu sein.
Wie sollte ich ihr denn all meine widerstrebenden Gefühle mitteilen?
Wie sollte ich ihr begreiflich machen, dass ich gerade gar nichts sehe, außer den jeweiligen Tag, den es zu bewältigen gilt? Manchmal mit sehr viel Freude und Genuss und manchmal quälend und tief traurig.
Die Person hakte nach, blickte mich erwartungsfroh und aufmunternd an.
Und so kam ich um eine Antwort nicht herum. In meinem Hinterkopf hörte ich etwas klirren und zerspringen.
“Mein Glas ist leer. Ich kann es gerade weder halb voll, noch halb leer betrachten, denn es ist nichts drin, was es zu betrachten gibt.”
“Das klingt aber alles andere als lebensbejahend”, lautete die Antwort, die in meinen Ohren fast vorwurfsvoll klang.
Und wieder einmal stieß ich an meine eigenen Grenzen. Ich wartete selbst schon so lange darauf, dass sich Lebensmut einstellte. Oder irgendeine Einstellung – zu Erlebtem und meiner Zukunft. Auf die Sicht der Dinge. Aber ich fühlte nichts.
Alles, was sich bisher einstellte, war eine gewisse Routine und ein Abstumpfen. Auch nach Krebs war und bin ich nach wie vor damit beschäftigt, all die tiefen Wunden zu heilen. Wenn ich nicht gerade versuche, im Beruf den Anschluss nicht zu verpassen, laufe ich von Nachsorgetermin zum nächsten Vorsorgetermin, lasse mir all die Nebenwirkungen, die die Therapie hervorbrachte, regelmäßig ansehen und durch Anschlusstherapien lindern. Meine Gedanken kommen nach wie vor nicht zur Ruhe, denn alles, was mein Leben gerade ausmacht und größtenteils bestimmt, sind medizinische Termine und Gedanken rund um ein möglichst gesundes Leben, um eine Zukunft zu haben. Und gerade sehe ich nicht, wie sich das kurzfristig ändern ließe.
“Wird denn von mir erwartet, dass ich das jetzt bin? Lebensbejahend?
Ich bin froh, noch am Leben zu sein, ja. Ich bin wütend, dass ich all das erleben musste, und wie.
Ich bin glücklich, dass ich noch eine Zukunft habe und ich bin todtraurig, dass ich nun anders und mit Einschränkungen leben muss.
Findest du es wirklich fair, einer Person, die gerade ein Trauma bewältigt, eine solche Frage zu stellen und dann auch noch ein aus tiefstem Herzen kommendes, kraftvolles “Ja” zu erwarten ?”
Damit habe ich einiges gesagt. Bei weitem nicht alles, was in mir gerade vorgeht. Vielleicht war es nicht gut, mit einer Anklage zu enden. Allerdings ist es eine sichere Methode, alle Nachfragen zum Schweigen zu bringen.
Muss ich denn das Leben von nun an mit anderen Augen sehen? Auf ewig glücklich sein? Auf ewig geläutert?
Wird das von mir erwartet? Nun weiser zu sein? Mutiger? Gelassener?
Ich bin nichts davon. Ich wanke durchs zurückgekämpfte Leben, habe Todesängste und Panikattacken und versuche ganz einfach, diesen ganzen riesengroßen Scherbenhaufen behutsam Stück für Stück wieder zusammenzukleben.
Darf ich nicht einfach wieder Mensch sein, nachdem ich nun lange genug ferngesteuert leben musste?
Muss ich das Glas denn künftig wieder halb voll oder leer betrachten?
Oder darf ich nicht auf ewig einfach nur ein Glas betrachten und den Inhalt schlicht genießen?