Erleichterung vs. Belastung
Zweiter Geburtstag nach Diagnose
Hallo zusammen,
Ich LEBE! Nach der Mortalitätsstatistik für Intrahepatisches Gallengangskarzinome (Tumorregister München, 2020) sterben im 1. Jahr nach Diagnose ca. 40% der Patienten (alle Fälle: Stadium I-IV). Betrachtet man nur die Neuerkrankungen im Stadium IV, so dürfte die Mortalität >80% liegen. Und ich bin im Jahr 2 dieser schicksalhaften Tragödie. Tragödie ein Wort mit seltener sprachlicher Verwendung. „Kennzeichnend für die klassische Tragödie ist der schicksalhafte Konflikt der Hauptfigur. Ihre Situation verschlechtert sich ab dem Punkt, an dem die Katastrophe eintritt. In diesem Fall bedeutet das Wort Katastrophe nur die unausweichliche Verschlechterung für den tragischen Helden. Allerdings bedeutet diese Verschlechterung nicht zwangsläufig den Tod des Protagonisten.“ (Wikipedia)
Die unausweichliche Verschlechterung im Jahr 2 zeigte sich nachfolgend:
- 19 Chemotherapien (1 stationärer Klinikaufenthalt und 24 ambulante Tagestermine), 4 CTs, 1 MRT, nicht gezählte Blutabnahmen zur Kontrolle des Blutbildes
- 27 Arzttermine
- 3 Heilpraktikersitzungen und psychoonkologische Gespräche
- Seit August 2018: K57.10 chronische rezidivierende Sigmadivertikulitis – 2 Entzündungen in 2022
- Seit 2020: K44.9 Axiale Hiatushernie (Zwerchfellbruch)
- Seit 2020: I10 Arterielle Hypertonie
- Seit Juli 2021: M51.1 mediolateraler Bandscheibenprolaps/ Sequestration der Bandscheibe LWK 5/SWK 1
- Seit Juli 2021: G61.0 akute motorisch-sensorische axonale Polyneuropathie
- Januar bis April 2022: Pfortaderthrombose
- Seit September 2022: Sklerosierende Cholangitis (K83.0) – die sklerosierende Cholangitis ist ein chronisch cholestatisches Syndrom, charakterisiert durch ungleichmäßig in der Leber verteilte Entzündungsherde, Fibrose und Strikturen der intra- und extrahepatischen Gallengänge. Im Krankheitsverlauf werden die kleinen Gallengänge verschlossen, was zu Zirrhose und Leberversagen führt.
- Beendigung der Erstlinien- und Zweitlinientherapie im Oktober und Start der „Metronomischen Chemotherapie“
- Seit Oktober 2022: Einbezug des „Ambulanten Palliativdienst Juliusspital (SAPV)“
„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“
Cicely Mary Strode Saunder (1918-2005)
- Chemofreie Zeit vom 17.08. bis 26.09.2022 und wohlverdienter Urlaub zur Regeneration, Stärkung der Seele und Heilung der emotionalen Wunden der vergangenen Monate.
In meinem 2. Jahr mit dem Krebs rücken „Sein“ und „Haben“ aus dem Nebel der Vergangenheit und öffnen mir die Augen für eine neue Sichtweise. Der moderne gebildete aufgeschlossene Mensch, den ich in dieser Fassade kennen lernen durfte, ist besonders labil und empfänglich für Autoritäten und die Verführungen materieller Glücksversprechen. Antriebslos, der nur noch eins zu kennen scheint: „Haben-Wollen“. Das rationale Gehirn befeuert die Urtriebe und stärkt unaufhörlich die Charakterprägungen wie Habgier und Neid. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich wird ertränkt im Konsumrausch. Die Befriedigung nur ein kurzer erkaufter Glücksmoment, ein Serotonin Trip mit kurzer Verfallszeit verlangt bald nach mehr.
Denn die Bedürfnisse sind unbeschränkt und haben keine Grenzen. Dann bleiben die meisten Menschen letzten Endes arm. Reich am ungenutzten Besitz und arm an Beziehungen und emotionaler geistiger Fülle. Wir flüchten in die Quantität des Überflusses und überspielen unsere eigene Unsicherheit.
Der Mensch verliert sich in Zerstreuungen und Ablenkungen, nur um nicht seine eigene Leere zu spüren. Heute ist der Mensch sicher nicht mehr unter-, sondern überfordert. Er ist zugleich gefangen im Wahn der ständigen Körperüberwachung (Gesundheits-Apps, Watch, Fitnesstracker) und -optimierung. Die Angst vor Krankheit und dem unbekannten Tod lässt ganze Industrien aus dem Nichts entstehen. Fitness-, Mental- und Life-Coaches (auch im Krebsbereich) versprechen wahre Wunder. Der einfache Mensch verführt und verfällt dem Wahnsinn einer verheißungsvollen Zukunft voller Kraft und Energie umgeben von Schönheit und perfekten Körpern. Der Tod wird zur Nebensache erklärt.
Ich bin im Sein angekommen ohne nichts zu „Haben“. Und doch habe ich so viel, was nicht käuflich ist, echte Freundschaft, Familie, liebevollen Partner und ein Schatz an Emotionen eines mitfühlenden Herzens. Ich habe schmerzlich gelernt mit weniger auszukommen und trotzdem plagen mich Existenzängste. Ein möglicher Kontrollverlust über meine geringen finanziellen Mittel belastet den Alltag. Der Tod, mein ständiger Begleiter, hat seine grauenvolle Fratze verloren.
Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Aber ich spüre die heraufziehende „Letzte Meile“. Noch ist sie im Dickicht der Therapie und meines Überlebenswillens verborgen. Mit dem Krebs ist mein Leben „plötzlich“ sterblich geworden. Eine Erkenntnis die meinem visionären, zukunftsverliebten „Ich“ ganz und gar nicht gefällt.
„Viele spüren, dass ein Leben, das dem Erfolg, der Konkurrenz, der Ausbeutung
dient, in Wirklichkeit ein Leben ist, das die Menschen unglücklich macht.“
Erich Fromm (1900-1980)
Wie verlief Ihr Leben in den letzten 365 Tagen? Waren Sie Getriebener oder Gestalter?
An alle Krebsler: „never give up“!
Euer
Christian