Erleichterung vs. Belastung
Ein Jahr danach
Dieser Tage jährt sich die Entdeckung meines Tumors zum ersten Mal, ebenso wie die erste Verdachtsdiagnose, die folgenden Untersuchungen und schließlich die Operation. Am 29. Oktober bin ich bereits ein Jahr krebsfrei.
Auf der einen Seite kommt es mir vor, als sei es gestern gewesen. Ich erinnere mich präzise an einschneidende Momente und Aussagen. Auf der anderen Seite denke ich, das alles ist bereits eine Ewigkeit her. Ich glaube, diese Ambivalenz, diese Gleichzeitigkeit scheinbar widerstreitender Gefühle, ist typisch für Krebs. Sowohl bei Betroffenen als auch im Umfeld. Die Erkrankung wirft dich in eine Achterbahn der Emotionen, nur dass die Strecke sich jederzeit ändern kann. Keine Kurve, kein Looping ist vorhersehbar. Und ob die Gurte zuverlässig funktionieren, weißt du zu keinem Zeitpunkt sicher.
Im November steht die nächste vierteljährliche Kontrolle an. Und während in meinem Umfeld viele davon ausgehen, dass alles gut sein wird, stelle ich mich instinktiv auch auf den Worst Case ein. Nicht ausschließlich, aber auch. Es ist ein denkbares Szenario unter vielen und ich möchte vorbereitet sein.
Außerdem: Einer guten Prognose glauben? Nun, im letzten Jahr habe ich gleich mehrere Statistiken gesprengt. Der Tumor wurde durch eine ganze Reihe von Zufällen im Frühstadium entdeckt. Ich bringe keine klassischen Risikofaktoren mit. Wahrscheinlichkeiten sagen im Einzelfall also recht wenig aus. Es gibt Fälle, bei denen trotz schlechtester Vorzeichen alles gut läuft. Und andere Beispiele, bei denen niemand mehr damit gerechnet hat und der Krebs dennoch zurückkehrte. Woher soll ich wissen, zu welcher Gruppe ich gehöre?
Toxische Positivität, also das zwanghafte Festhalten am Guten, macht krank. Es führt dazu, dass wesentliche Gefühle verdrängt werden. Optimismus, der auch weniger gute Szenarien in der Vorstellung zulässt, trägt sich im Zweifel gut durch die nächste Krise. Optimistisch zu sein bedeutet nämlich nicht, Unliebsames auszublenden oder zu verdrängen. Es bedeutet für mich, dass ich an meine Fähigkeit glaube, in jedem Fall einen guten Weg des Umgangs mit einer neuen Situation zu finden. Optimismus und Gefühle wie Angst oder Trauer schließen sich nicht aus.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich im Krankenhaus lag und mir ein Arzt in aller Kürze das Ergebnis aus dem Labor mitteilte. Ich war gerade frisch operiert, wenige Tage nach der OP. Und es war unklar, ob dem Eingriff Therapien wie eine Bestrahlung oder eine Chemo folgen mussten. Das entnommene Gewebe war genau untersucht worden. Jetzt lagen erste Erkenntnisse vor.
„Die Lymphknoten sind frei“, teilte mir der Arzt mit. Das war eine sehr gute Nachricht. Doch obgleich ich das sofort verstand, gelang es mir nicht, erleichtert zu sein. Ich war einfach nur müde, mental zutiefst erschöpft, körperlich von der Operation noch stark angegriffen und stand vermutlich nach wie vor unter Schock. Ich nahm die Information hin, als hätte mir der Mann die Ergebnisse der dritten Fußball-Bundesliga aus Paraguay mitgeteilt.
Mein Umfeld reagierte anders. „Die Lymphknoten sind frei“, erzählte ich meinem Bruder, der zu diesem Zeitpunkt gerade bei unseren Eltern zu Besuch war. Sofort gab er die Info an die beiden weiter – und unterbrach mich dafür, obgleich ich meinen Bericht noch gar nicht beendet hatte. Die frohe Kunde war für den Moment wichtiger als das, was ich noch mitzuteilen hatte. Und ich hörte ihnen im Hintergrund die Freude an.
„Jetzt machen sie sicher einen Sekt auf“, dachte ich. Mir war ganz und gar nicht nach feiern. Nach meinem Empfinden hatte ich lediglich eine weitere Etappe bewältigt. Über die Ziellinie war ich noch lange nicht gefahren. Zu sehr hatte mich die Diagnose seelisch erschüttert. Und zu stark waren die körperlichen Folgen der Lobektomie – so lautet der Fachbegriff für die Entfernung eines Lungenlappens. Das alles hatte ich längst noch nicht aufgearbeitet.
Ich nehme es niemandem übel, so zu reagieren. Für Angehörige ist die Situation schließlich ebenfalls eine große Belastung. Sie dürfen natürlich erleichtert sein. Während ich in den folgenden Wochen weiter um Fassung rang, meine Ängste verarbeitete und eine intensive Phase der Trauer erlebte, kehrte für manche in meinem Umfeld allerdings wieder Alltag ein. Die Nachfragen, wie es mir denn ginge, wurden seltener.
„Du hast doch eine gute Prognose, warum geht es dir denn jetzt eigentlich immer noch schlecht?“, wurde ich allen Ernstes von einer Person gefragt, weil ich nach wie vor auf dem Zahnfleisch ging und unfassbar traurig war. Anfang Januar, gut zwei Monate nach der OP. (Und, by the way, mit einer Lungenfunktion zu der Zeit von etwa 50 Prozent mitten in einer Pandemie.) Da entlastet es, in der Fachliteratur zu lesen, dass der Schock nach einer Krebsdiagnose durchaus zwei bis drei Monate anhalten kann.
Und dass es mitunter mehrere Jahre braucht, sie grundlegend zu verarbeiten. Hey, ich bin noch im Spiel. Und ich gebe mir größte Mühe, mich innerlich positiv auszurichten. Ich bin dankbar für die Entdeckung des Tumors, denn ich möchte mir nicht ausmalen, was ohne den Zufallsbefund geschehen wäre. Aber bitte, alles in meinem Tempo.
Krebs ändert eine Menge. Das Vertrauen in den eigenen Körper wird erschüttert. Die gefühlte Gewissheit, ein langes und erfülltes Leben führen zu können, ist vorerst dahin. Mentale und physische Folgen gilt es zu bewältigen. Aus diesem Grund halte ich mich an Menschen, die Verständnis für mich haben, sich in andere hineinversetzen können. Die in der Lage sind, Ambivalenz auszuhalten. Zum Glück sind das viele. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich nach wie vor erfahre. Darauf möchte ich meinen Fokus richten.