Erleichterung vs. Belastung
Wie ich mit Rückenschmerzen zum Arzt ging und mit Lymphdrüsenkrebs zurück nach Hause kam.
Rückblick: Es ist Freitag, der 06. September 2019. Mit meinem nebenberuflichen Projekt “Matchbox your Car”, einer Fotobox, mit der ich auf Autoveranstaltungen auftrete, bin ich auf dem Weg von Hamburg nach Leipzig. Allein schon die Anreise ist eine einzige Herausforderung. Der bestellte Anhänger ist nicht verfügbar, dafür kriege ich einen größeren Hartschalenanhänger. Das bedeutet, dass ich mit mehr Treibstoff rechnen muss. Unterwegs, nach diversen Staus, platzt mir um 16:50 Uhr kurz vor Braunschweig ein Reifen an dem Anhänger. Zum Glück ist ein Reifenhandel nur 15 Minuten Fahrt entfernt und sie haben auch noch genau einen Reifen in der notwendigen Größe auf Lager. Innerhalb von 30 Minuten bin ich wieder auf der Autobahn. Der große, wenig windschnittige Anhänger lässt meinen Tankinhalt förmlich zusehends verdampfen. Mit 40 km Restreichweite auf der Anzeige im Kombiinstrument erreiche ich eine Tankstelle. Es ist 20:30 Uhr. Die Tankstellenangestellte gestikuliert wild. Ich soll wohl nicht tanken. Ich gehe in den Verkaufsraum und frage, was los sei. Sie klärt mich auf, dass ich bitte nicht tanken solle, sie hätten eine Havarie und hinterm Haus stünden 5 Feuerwehrlöschzüge und pumpen Kraftstoff ab. Ich sage, dass ich aber dringend Kraftstoff brauche und wo die nächste Tankstelle sei? “§0 km entfernt” antwortet mir die Tankstellenangestellt. Das wird eng. Gefühlt mit dem letzten Tropfen Sprit rolle ich auf den Tankstelle. Wenig später erreiche ich um kurz nach 22:00 Uhr das Veranstaltungsgelände in Leipzig. Eigentlich wollte ich heute noch aufbauen. Diesen Plan cancel ich.
Ich hänge den Anhänger ab und fahre zu Freunden, bei denen ich über das Wochenende unterkommen kann. Am nächsten Tag baue ich in aller Frühe auf, dann geht die Veranstaltung los. Ein langer Tag. Von 07:15 Uhr bis 20:30 Uhr bin ich auf dem Veranstaltungsgelände. Aber es ist ein Job der sich mehr als Hobby als als Arbeit anfühlt, von daher passt es.
Abends zurück bei meinen Freunden zwickt es im Lendenwirbelbereich. Ich hatte eigentlich schon immer Probleme mit dem Rücken. Bereits im Grundschulalter diagnostizierte der Orthopäde bei mir eine Wirbelsäulenfehlstellung. Im Alter von 24 erleide ich bei einem Autounfall eine Wirbelsäulenüberdehnung. Seitdem verhärtet meine Nackenmuskulatur sehr schnell, was zu Kopfschmerzen führt. Ich schiebe die aktuelle Attacke darauf, dass ich den Anhänger allein rangiert und die Fotobox größtenteils allein aufgebaut habe und mich wahrscheinlich irgendwo verhoben habe.
Die darauffolgende Woche kämpfe ich mich mit immer massiveren Rückenschmerzen noch zur Arbeit. Am darauffolgenden Wochenende geht nichts mehr. Meine Freundin ist mit unserer Nachbarin in Berlin auf einer Messe, ich mit unseren Kindern allein zuhause. Ich krebse durch die Wohnung wie ein alter Mann. Socken anziehen ist nicht mehr möglich, meine Füße bekomme ich gerade noch 30 cm vom Fußboden abheben. Der Schmerz im Rücken wird immer stärker. Ich habe das Iliosakralgelenk (ISG oder IS-Gelenk) in Verdacht. Das ist das Gelenk, dass das Becken mit der Wirbelsäule verbindet. Nach diversen Lockerungsübungen für das ISG werden die Beschwerden auch etwas erträglicher. Ich beschließe dennoch am Montag zum Arzt zu gehen. Mein Hausarzt schließt sich meinem Anfangsverdacht an, empfiehlt mir weitere Gymnastikübungen zur Lockerung und verschreibt mir Tabletten, mit denen ich “nächste Woche wieder wie neu” sein werde, wenn ich sie regelmäßig einnehmen würde. Am Freitag denke ich, dass ich in der kommenden Woche wieder arbeiten gehen könnte, da sich die Symptome gefühlt gebessert haben. Aber schon am Wochenende soll sich alles wieder verschlechtern. Das Schmerzgefühl wird immer diffuser. Mal zieht es um unteren rechten Lendenbereich, dann fühlt es sich an wie ein dumpfer Druckschmerz im Bereich der Leiste mit Ausstrahlungsschmerz in den rechten Oberschenkel, mal kribbelt es in den Füßen. Ich stelle mich erneut bei meinem Hausarzt vor. Er überweist mich dieses Mal zum Orthopäden. Ich habe Glück und muss nur vier Tage auf einen Termin beim Orthopäden warten. Mittlerweile sind die Schmerzen auch wieder einigermaßen erträglich. Freitags mache ich mich auf den Weg zum Facharzt. Er kann “von aussen” nichts nennenswertes feststellen, ausser oben bereits beschriebene Wirbelsäulenfehlstellung. Er überweist mich vorsorglich an die Radiologische Allianz, um ein MRT des Rückens anfertigen zu lassen. Die Wartezeit auf einen Termin beträgt dieses Mal vier Wochen. Als diese vier Wochen verstrichen sind, sind die Rückenschmerzen bereits weg und ich erwarte eigentlich, dass das MRT ohne Befund abgeschlossen werden wird. Es ist der 16.10.2019, ich mache mich auf zur Radiologischen Allianz. Nach kurzer Wartezeit geht es in die Röhre. Nach 30 Minuten ist der Spuk vorbei und ich gedulde mich noch etwas im Wartebereich um meine MRT-Bilder und den Befund ausgehändigt zu bekommen. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, öffne ich den Umschlag und versuche als erstes etwas auf den Bildern zu erkenne. Bei MRT-Bildern ist das aber noch schwieriger als bei Ultraschallbildern während einer Schwangerschaft. Ich resigniere und widme mich dem geschriebenen Befund. Lesen kann ich doch besser als medizinische Bilder zu interpretieren. Der Befund beginnt harmlos:
- “Keine Wirbelkörperhöhenminderung”
- “Kein Nachweis einer Fraktur”
- “Unauffällige paravertebrale Weichteile”
Danach muss ich mich erstmal setzen. Im letzten Absatz steht fettgedruckt: “Verdacht auf pathologisch vergrößerte parailiakale Lymphknoten, möglicherweise initial auch paraaortal. Bis dahin verstehe ich bis auf “Lymphknoten” erstmal nur Bahnhof. Die Passage, die mir erstmal den Boden unter den Füßen wegzieht, kommt jetzt:
- Weitere Untersuchungen empfohlen (bildgebend z. B. MRT Abdomen): Lymphom, Sarkoidose, Hodentumor?
Das Wort “Hodentumor” lässt es mir eiskalt über den Rücken laufen. Das ist eines der wenigen Worte, die man als Mann nicht lesen möchte. Die Begriffe “Lymphom” und “Sarkoidose” muss ich erstmal googlen. Bei der Sarkoidose überprüfe ich die gängigen Symptome auf Vorkommen bei mir und komme zu dem Schluss, dass es das wohl nicht sein wird. Nachdem ich “Lymphom” gegoogelt habe, ist ein Hodentumor plötzlich mein geringstes Problem. Da ich auf Grund der Dauer ein gutartiges Lymphom für den Falle eines Falles ausschließen würde, entwickle ich eine gewisse Furcht vor einem malignen Lymphom. Am 24.10.2020 habe ich einen Termin zur Befundbesprechung beim Orthopäden. Er ist auch der Meinung, dass ein Abdomen-MRT die sicherste Option ist, um Klarheit zu erlangen. Ich rufe also erneut bei der Radiologischen Allianz an und bitte um einen Folgetermin. Die Dame am Telefon teilt mir mit, dass wir mit Terminen dann wohl “im Januar oder Februar liegen”. Ich bitte sie, den Befund einmal einzusehen, mit dem befundenden Radiologen zu sprechen, ob das noch bis Januar oder Februar warten kann. Ich werde in die Warteschleife gestellt und kurze Zeit später verkündet sie mir: “Der Radiologe möchte Sie schnellstmöglich sehen. Durch den Feiertag nächste Woche kann ich Ihnen aber erst einen Termin am 04.11.2020 anbieten!”. Mir ist das recht. Zwölf Tage Wartezeit sind besser als 4 Monate. Wenn einem dann aber auf einmal ein Termin in knapp über einer Woche angeboten wird, während man normalerweise Monate drauf warten muss, dann beruhigt einen das nicht wirklich.
Zeitsprung: Nach Tagen des Wartens, Grübelns und der Ungewissheit, die sich anfühlten wie Wochen begebe ich mich also am 04.11.2019 erneut in die Radiologie-Praxis. Dort angekommen, werde ich kurze Zeit unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt. Das MRT-Gerät hat heute eine Fehlfunktion und wird heute wohl nicht mehr einsatzfähig sein. Ich bekomme einen neuen Termin für den 07.11.2019. Nochmal 3 Tage warten. Das macht die Ungewissheit nicht besser. Am 07.11. mache ich mich also erneut auf den Weg in die radiologische Praxis. Ich rechne mit ca. 30 Minuten für die Untersuchung. Als Maßstab dient mir da die Zeit, die für das Rücken-MRT angesetzt wurde. Es sollten 2 Stunden werden. Am Ende stehe ich mit einem neuen ausführlicheren Befund da. Er bescheinigt mir eine Leberläsion, im Becken und Unterbauch leicht vergrößerte Lymphknoten. Links in der Leiste eindeutig vergrößerte Lymphknoten. Abschließend empfiehlt der Radiologe weitere histologische Abklärung.
Diese Empfehlung führt dazu, dass ich zwei Wochen später zwei Tage (21. bis 22.11.2019) stationär in die Asklepios-Klinik in Barmbek aufgenommen werde. Hier werden diverse Ultraschalluntersuchungen und eine Punktion eines Lymphknotens durchgeführt. Da die Punktionsprobe veränderte Zellen zeigt, die aber nicht eindeutig identifiziert werden können, empfiehlt der Arzt mir bei der Befunderöffnung, dass es besser wäre, den Lymphknoten zu entnehmen und defizil analysieren zu lassen. Dies wird für den 18.12.2019 terminiert. Vorher finden noch diverse Vorgespräche zur Aufklärung statt (Risiken, Nebenwirkungen, Narkoseaufklärung usw.). Bis zum 18.12.2019 sind es jetzt nochmal knapp 2 Wochen. In dieser Zeit dreht sich das Gedankenkarussell immer und immer wieder. Bisher habe ich nur meine Freundin und eine Handvoll enger Freunde über die ersten Verdachtspunkte eingeweiht.
Am 18.12.2019 erscheine ich um 08:30 Uhr im OP-Bereich der Asklepios Klinik Barmbek. Ich habe mich für eine Vollnarkose entschieden, weil es für mich einfach am komfortabelsten ist. Um kurz vor zwölf werde ich dann in den Tiefschlaf versetzt, um 14:00 Uhr werde ich wieder wach. Die Anästhesistin sagt, dass die OP gut verlaufen ist. Die Chirurgin teilt mir wenig später mit, dass der Lymphknoten “schon ziemlich groß” war. Noch eine Schippe mehr Beunruhigung landet auf dem schon sehr großen Beunruhigungshaufen in meinem Kopf. Das Ergebnis der Lymphknotenanalyse wird mir für den 30.12.2019 in Aussicht gestellt. Das können ja tolle Weihnachtsfeiertage werden. Ich beschließe, das Thema erstmal von mir wegzuschieben und so unbeschwert wie möglich die Feiertage mit der Famillie zu genießen. Es gelingt mir sogar ganz gut. Als ich am 06.01.2020 noch immer keine Rückmeldung zum Befund habe, rufe ich in der Klinik an. Der Befund ist noch nicht fertig. Durch die Feiertage hat sich da wohl einiges verschoben. Verständlich einerseits, nervig auf der anderen Seite. Am 14.01.2020 bekomme ich endlich einen Termin zur Befunderöffnung. Meine zuständige Onkologin kommt direkt und ohne Umschweife zur Sache. Die Analyse des entnommenen Lymphknotens hat definitiv ein Morbus Hodgkin oder auch Hodgkin-Lymphom ergeben. Somit ist es also amtlich – Lymphknotenkrebs. Die Nachricht ist erstmal total abstrakt und surreal für mich. So richtig angekommen ist es bis heute nicht. Leier kann die Onkologin das genaue Stadium noch nicht einschätzen, sie geht aber davon aus, dass ich mich in einem frühen Stadium befinden. Genaueres wird aber morgen (am 15.01.2020) in der Tumorkonferenz festgelegt. Einen Update-Termin erhalte ich für den 17.01.2020. Dort wird sich dann rausstellen, dass es sich um ein Hodgkin-Lymphom im Stadium IIIA handelt. Also doch fortgeschritten. Zum Glück aber ohne Metastasierung. Wenigstens etwas. Anschließend geht alles Knall auf Fall. Für den kommenden Mittwoch, 22.01.2020 ist die Portanlage angesetzt, einen Tag später beginnt die Chemotherapie.
Das war sie also, meine Geschichte, wie ich mit Rückenschmerzen zum Arzt ging und mit Krebs wiederkam.
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