Erleichterung vs. Belastung
Wer will schon ein Opfer sein?
Wieso ich?
Na, kommt dir dieser Satz bekannt vor? Hast du den auch schon gedacht? Oder gar ausgesprochen? Vielleicht bist du sogar schon so weit gegangen und ihn auf einem Stück Papier aufgeschrieben?
Ich verrate dir etwas: Du bist damit nicht alleine. Nein, ich verwende diesen Satz nicht, jedoch sehr viele andere Menschen, die mir sehr nahe stehen oder standen. Eine davon hat mich sogar geboren, mir das Leben geschenkt. Und trotzdem oder gerade deshalb, schaffe ich durch mein Dasein zu schreiten, ohne diese Gedanken zu bekommen. Dass alle anderen es besser haben. Dass deren Leben einfach wäre, sie keine Sorgen hätten, gesund wären. Dass es ihnen gut ginge. Dass sie keine Opfer sind.
Ich habe sehr lange überlegt, ob ich über dieses Thema schreiben soll, denn: Wer bin ich schon, um jemandem gut gemeinte Ratschläge zu geben? Ist mein Leben perfekt? Läuft alles rund? Habe ich Glück gepachtet? Einfache Antwort auf alle drei Fragen: NEIN.
Was mich dazu bewegt, es doch zu tun, ist, dass ich schon mit mehreren Psychologen sprach in den letzten 7 Jahren. Egal ob in der Reha, im Krankenhaus, einem Ausbildungszentrum oder einer Begleitmaßnahme. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie bewunderten und lobten mich für meine Resilienz, für meinen Blick auf mein Leben und das, was schon alles vorgefallen ist. Ich will mich jedoch nicht selbst loben oder gar ein Lobeslied über mich schreiben, sondern dir sagen, wie es dazu kam, dass ich das alles etwas leichter ertrage als manch anderer.
Es ist nicht so, dass mich mein Leben und meine Erlebnisse nicht traurig machen oder ich mit ihnen nicht kämpfe. Das tue ich. Tagtäglich. Es ist nur so, dass ich weiß, und das kann ich wirklich mit Sicherheit behaupten, dass es Menschen gibt, denen es noch schlechter geht als mir. Die es noch schwieriger haben. Nur sollte man darüber nicht in Schadenfreude verfallen, sondern voller Demut sein.
Wie oft habe ich meine Mutter gehört, ihr Schicksal zu verfluchen? Ich weiß es nicht. Unzählige Male. Kennst du das, wenn man sich als Teenager denkt, ich will auf keinen Fall so werden wie meine Mutter? Manche begleitet das ihr ganzes Leben. Mich zum Beispiel, dass ich denke, nein, diese Opferrolle ist nicht meins. Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an. Was tat ich stattdessen?
Ich suchte mir ein anderes Vorbild, bei dem ich sah, es geht auch anders. Leider musste ich nicht lange und nicht weit suchen, denn es gab jemandem in meinem sehr nahen Umfeld, der es viel schwieriger hatte, als ich es jemals haben werde. Meine Tante, die in meinem Augen meine zweite Mama ist. Wie oft aß ich bei ihr? Wie oft übernachtete ich bei ihr? Spielte mit ihren Kindern? Lebte mit ihnen wie mit meiner Zweitfamilie? Ich weiß es nicht. Ihre Kinder sind für mich wie Geschwister, obwohl wir uns nicht mehr so oft sehen. Was zählt, ist, dass wir morgen wieder zusammenkommen können, und es wird so sein, als wären wir nie getrennt. Die eine wird fehlen und mit diesem Schmerz müssen wir klar kommen. Wir wissen, dass sie da war, und dass sie nach fast 21 Jahren noch immer so schmerzlich vermisst wird, wie am ersten Tag. Meine Cousine, die Tochter meiner Tante, die Schwester meiner Cousine und meines Cousins.
Wenn jemand, der ein Kind hat, das an Krebs erkrankt ist, einen Mann, der ein paar Monate später durch einen Schlaganfall zum Pflegefall wird, selbst krank wird und operiert werden muss, noch immer lachen kann, der ist stark. Sehr stark. Und das alles passierte fast gleichzeitig. Kaum war die akute Krebstherapie beendet, war der Schlaganfall da. Wenn das Leben es so will, dann teilt es ordentlich aus.
Ich sagte ja. Viel schwieriger als ich es selbst jemals haben werde. Und das ist nur ein Beispiel, ich kenne noch viele andere. Und du sicher auch, nur denkt man nicht darüber nach. Wieso? Weil man in dieser Opferrolle gefangen ist. Es gibt sehr viele Menschen, die über sich denken “Ich bin das Opfer”, aber im nächsten Moment jemandem mit “Du Opfer!” beschimpfen. Lustig, oder? Mal hat das Wort ein positives Akzent, mal ein negatives. Je nach dem, wie es uns passt.
Es ist nicht schwer, aus dieser Rolle auszubrechen. Der erste Schritt ist es, sich bewusst zu werden, dass es jemand anderer nicht leichter hat. Glaub mir, er oder sie oder es, hadert genau so mit dem Schicksal wie wir. Nur steht es niemandem auf die Stirn geschrieben womit man auskommen muss. Wir alle tragen unser Binkerl und das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner. Nur stimmt das mit dem Gras nicht. Das mit dem Binkerl schon.
Anstatt sich zu fragen “Wieso ich?”, denke ich lieber “Wer, wenn nicht ich?”. In dem Moment weiß ich, niemand. Also ich. Weil jemand muss es sein.
Unser Schicksal ist keine Strafe. Ja, es sind schlimme Sachen passiert und ja, es könnte leichter sein. Das macht aber keinen Opfer aus uns. Mein Leben ist trotzdem oder auch gerade deshalb lebenswert. Ich bin davon überzeugt, deines auch.
Vielleicht glaubst du mir das nicht. Vielleicht denkst du dir, dass wäre alles Blödsinn, was ich schreibe. Ich will nichts anderes behaupten, denn wer bin ich schon? Dafür habe ich ein Beispiel für dich, das ziemlich genau das zeigt, was ich sagen will und woher ich meine Kraft schöpfe.
Ja, ich bin krank und ziemlich schwere und dunkle Zeiten sind hinter mir, jedoch: Wir haben Glück, dass wir in einem Land leben, in dem gute medizinische Versorgung schon selbstverständlich geworden ist und manchmal gar nicht wertgeschätzt wird. Obendrauf habe ich was zum essen und einen Dach über dem Kopf.
Es gibt Länder in dieser Welt, und dafür müssen wir gar nicht sehr weit gehen, in denen Menschen schauen und sich Sorgen machen müssen, ob und was sie morgen auf dem Tisch haben werden, oder was ihre Kinder essen werden, ob der Obdach halten wird. Sie werden auch krank, müssen dann kilometerweit zum Arzt gehen, wenn sie überhaupt einen haben. Und dann kommt noch darauf an, wie viel Geld sie in den Taschen haben.
Diese Sorgen habe ich nicht. Ich ziehe mich an und gehe zum Arzt. Stelle meinen Rehaantrag. Plane mit meinen Ärzten die bevorstehende Untersuchungen, die ich dann kostenlos machen kann.
Verstehst du jetzt meinen Standpunkt? Was ich sagen will, ist, es könnte viel schlimmer sein. Schätzen wir das, was wir haben. Das hat aber nichts mit unserer Traurigkeit und Wut zu tun. Wir dürfen traurig sein, und wütend auch. Auf uns, auf unser Leben, auf die Welt. Nur nicht zu lange. Nicht darin verharren. Krone richten, weiter gehen.
Wenn du dir nächstes mal denken solltest, dass es niemand so schwer hat wie du, versuche deine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Sag, am besten laut, es könnte schlimmer sein, Gott behüte. Du wirst spüren, wie sich deine Laune bessert. Schau dich um, und schätze das, was du hast. Wir leben in einer Welt, die uns vorgaukelt, man sollte sich nie damit zufrieden geben, was man hat. Immer das Höhere erreichen wollen und sollen. Falsch. Wir sollten schätzen was wir haben und falls sich etwas ergibt, dass uns noch glücklicher machen wird, das annehmen, aber auch zurücklehnen und zufrieden betrachten, was wir haben. Was wir sind oder erreicht haben. Selbst wenn du heute nur aufgestanden bist. Auch das ist eine Leistung.
Die anderen haben es nicht besser als wir, nur sieht man das nicht. Woher ich das weiß? Aus meiner eigenen Erfahrung. Wenn mich jemand auf der Straße sieht, ohne meine Geschichte zu kennen, wird nie darauf kommen, dass ich schwer herzkrank bin und vor anderthalb Jahren eine Krebsdiagnose bekam.
Und wie oft hast du jemanden beneidet, der zu deinen Idolen gehört? Einen Sänger, eine Sängerin, einen Schauspieler, eine Schauspielerin? Sportler, Sportlerin? Und dann kam heraus, sie haben auch Probleme, große Schicksalsschläge, schlimme Erkrankungen. Siehst du?
Ganz liebe Grüße und bis zum nächsten Mal
Miri
Bild von Jennie auf Pixabay