Erleichterung vs. Belastung
Wenn die Hoffnung zerbröckelt
Hallo zusammen,
„Die Hoffnung ist eine Veranlassung der Seele, sich zu überreden,
daß das, was sie begehrt, eintreffen wird.“
René Descartes (1596-1650)
(Descartes, Die Leidenschaften der Seele, 2. Teil, Artikel 58, Verlag Meiner S. 99, 1996)
Die Hoffnung spielt eine zentrale Rolle im menschlichen Dasein. Sie ist Medizin, Motivator und Antreiber und eine Grunderscheinung des Menschseins nach dem Streben nach Glück, Liebe und Anerkennung. Und zu guter Letzt nach einem erfüllten, langen, gesunden Leben. Hoffnung und der Gegenpart Zweifel befinden sich permanent in einem Spannungsverhältnis, wie die 2 Miniaturmännchen auf den Schultern von Captain Jack Sparrow in Teil 3 der „Fluch der Karibik – Am Ende der Welt“, sie ringen um die Vorherrschaft ihres Dieners, sind listig und trickreich und bescheren Kopfkino. Seit der Antike wird die enttäuschte Hoffnung als Leid verstanden, die physische und psychische Schmerzen verursachen kann. Im Gleichgewicht von Hoffnung und Zweifel entsteht der Realitätssinn.
Mir gefällt die Annäherung der Hoffnung über die Philosophie, der eng mit meiner aktuellen Situation der palliativen Betreuung in Verbindung steht. Hoffnung ist, im Grundtenor der philosophischen Vergangenheit und Gegenwart, z.B. vertreten durch den Mediziner Prof. Dr. med. Giovanni Maio, „ein Offensein, für das, was kommen wird und dass wir nicht ändern können, und ein Vertrauen darauf, es bewältigen zu können.“
Baruch de Spinoza (1632-1677) erkennt, dass „alles Glück oder Unglück allein in der Beschaffenheit des Gegenstandes liegt, dem wir in Liebe anhangen. … wenn wir uns aber einmal in unsren Hoffnungen getäuscht sehen, dann entsteht daraus die größte Unlust.” (Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, Einleitung, Verlag Meiner S. 3-9.) So geht es mir aktuell; ein möglichweiser kurativer Ansatz einer Leberresektion musste wegen neuen Mestastasen im Bauchfell eingestampft werden. Intraoperativ zeigte sich abweichend aller bildgebender Verfahren (CT und MRT) das Bild einer disseminierten Peritonealkarzinose (C 78.6 / C 48.2 nach ICD10SGBV) die auch histologisch intraoperativ mit Schnellschnitt gesichert wurde. Meine Hoffnung auf körperliche Genesung rückt in Windeseile in weiter Ferne, aus dem Hier und Jetzt in das Irgendwann! Wut, Enttäuschung, Trauer und Verzweiflung ein tödliches Gemisch für die Psyche und körperliche Antriebslosigkeit versetzt meinen Körper die darauffolgenden Tage in die Schockstarre. Die Tage laufen an mir im wahrsten Sinne betäubt vorbei. Tränen laufen bei den kleinsten, emotionalen Momente (der 8. Hochzeitstag, der 18. Geburtstag meiner Tochter) und kullern die eingefallenen Backen hinunter. Was ist mein rettender Anker?
Diese Fähigkeit, in totaler Ausweglosigkeit einen rettenden Anker in die ungewisse Zukunft zu werfen, beschreibt der Philosoph Jonathan Lear als „radikale Hoffnung“: Radikale Hoffnung „besteht in der Hoffnung darauf, dass etwas Gutes hervortreten wird, selbst wenn man gegenwärtig noch nicht über die Begriffe verfügt, mittels derer man sich dieses Gute verständlich machen kann.“ (Jonathan Lear: „Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“, übers. v. Jens Pier, Suhrkamp, 2020)
Mein rettender Anker ganz ehrlich: mein Lebenswille, meine körperlichen Fähigkeiten und meine Spiritualität. Mein sehr guter Onkologe und Hausarzt, die auch aus den Leitlinien ausbrechen und unkonventionelle Wege beschreiten, sind aktive Lotsen zur Überwindung aller Zweifel und Utopien.
Die Sehnsucht nach Erfüllung unserer Hoffnungen, der unter Zweifel leidenden Menschen, ist kein banaler Alltagswunsch nach dem SUV oder dem Ferienhaus, einer Yacht oder eines staatlich sozialen Zuschusses also nach mehr von etwas, das es schon gibt. Es ist Teil unserer Lebensenergie, wie wir den Alltag mit dem Aufstehen aus dem Schlaf gestalten, Entscheidungen treffen und Wege gehen. Und jeder Tag beginnt von Neuem mit viele unbekannte Größen. Ich glaube in jeder chronischen Erkrankung ist die zentrale Hoffnung die Genesung und Heilung. Die körperliche Unversehrtheit gepaart mit der „Gesundheit“ ist am Ende aller „positiver Lebenserrungenschaften“ das höchste Gut eines jeden Menschen.
Im Christentum beschreibt Paulus die Hoffnung als „Vertrauen auf Gott, der die Toten lebendig macht” (Römer 4,17). Liebe Krebsler, unabhängig Ihrer Religiosität und ihres Glaubens, der nicht auf einer höheren Macht ausgerichtet sein muss: LOSLASSEN und LEBEN! Lassen Sie Ihre Gefühle freien Lauf, werden Sie aktiv, setzen Sie Ihren Körper in Bewegung und hinterlassen Sie Spuren.
Jeder Erfolg im Krebsalltag, der Sie glücklich, zufrieden, stolz auf sie selbst macht, zählt. Es spielt keine Rolle, was andere dabei über Sie gedacht haben und ihre Leistung einordnen und bewerten. Es geht darum, dass Sie sich selbst mit einer tiefen Zufriedenheit und Wärme wahrgenommen haben. Da Erfolgserlebnisse immer eine positive Auswirkung auf Ihre Psyche und Ihr Unterbewusstsein haben, bekämpfen Sie Ihre heraufziehenden dämonischen Zweifel. Pflegen Sie Ihre romantische Beziehung, stabile Freunde und Unterstützungsnetzwerke.
Hoffnung wie Zweifel sind unsere ständigen Begleiter auf dem schwierigsten Marathonlauf der Superlative. Auch wenn wir mehr Kraft zum Ausharren benötigen. Am Ziel erwartet uns die unendliche Liebe und der innere Frieden.
„Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.“
Konfuzius (551-479 v.Chr.)
An alle Krebsler: „never give up“!
Euer
Christian