Annette fragt…Birgit Göttlich
Tomatensuppe
Wie wollen wir sterben?
Spitäler ab einer gewissen Größenordnung erinnern an eine kleine Stadt. Es gibt dort eine Bank, ein Lebensmittelgeschäft, ein Espresso, eine Trafik, eine christliche Kapelle und jedes Haus hat eine Concierge, die hier noch Portier genannt wird. Man nähert sich einem Kabäuschen mit Glasscheibe und wartet, bis ein unbekannter Mensch sich von der anderen Seite nähert und nach dem Begehr fragt. Man erfährt, wohin man gehen, welchen Aufzug man nehmen und wo man sich anmelden soll. ‚Leitstellen‘ heißen jene Orte, an denen man sich registriert und darauf wartet, aufgerufen zu werden.
An der Innsbrucker Klinik arbeiten etwa 7.000 Menschen, was im Vergleich zu den 110.000 Menschen des größten Spitals[i] der Welt ein Klacks ist. Die Vorstellung, sich auf einem Gelände mit 20.000 Ärzten und jährlich sieben Millionen Patienten aufzuhalten, erschien mir monströs. Mit dem Größenwahn hatte ich immer Probleme.
Ich sollte mich konzentrieren.
Meine ALF (= AllerLiebsteFrau) hatte die unselige Tante Google befragt, welche Ursache erhöhte Leukozyten haben können und war auf merkwürdige Hinweise gestoßen. Ehrlich gesagt, hatte ich das auch getan, aber so geheim wie möglich. So waren wir beide, ohne dass es der oder die andere wissen durfte, auf eine Krankheit gestoßen: Leukämie.
Allerdings war die Wahrscheinlichkeit dafür gering, zumindest empfand ich das aus innerer Abwehr so. Andererseits bin ich ein optimistischer Realist, also nahe dran an einem Pessimisten und fand selbst die geringe Wahrscheinlichkeit als unangenehm.
Die Nacht vor dem Spitalsbesuch war keine gute. Erinnerungen kamen hervor wie zarte Keime, deren Bedeutung man noch nicht kannte. Wurden sie Früchte? Waren sie Unkraut?
In den letzten zwei Jahren gab es eine Aneinanderreihung von kleinen bis größeren Entzündungen. Unerklärlich. Unbegründet. Mein Körper, bis dahin nahezu unempfindlich für Keime, zog sie an wie in Bauernhäusern der klebrige Streifen Fliegen. Schmerzen in den Beinen. Eine schlaflose Nacht mit einem heißen Vollbad. Ein Blutsturz nach dem Zahnarztbesuch. Ich bemerkte die blutbefleckte Hose, die an meinen Beinen klebte, erst daheim. Im Sommer eine Lungenentzündung. Zahlreiche Besuche bei Zahnärzten wegen Kieferentzündungen. Kleine, rote Flecken an den Armen. Heiße Nächte in kühlen Wintertagen.
Nun wurde dieses Etwas konkret, stieg aus der Dunkelheit auf, verdichtete sich in dem Satz: Du hast ein Ende. Jedes Leben wächst mit diesem Todesurteil auf. Meistens verdrängen wir es. Plötzlich ist es da.
Wir warteten in der Ambulanz. Und mir fielen Werbesprüche ein: Du schaffst alles. Lebe deinen Traum. Alles ist möglich.
Wir leben in einer Welt, in der alles geht und die ewiges Leben verspricht, zumindest aber ein jugendliches Aussehen und Beweglichkeit bis ins hohe Alter. Selbst der heutige alte Mensch ist aktiv mit allen Fasern, sei es mit Enkelkindern oder Hunden. Wenn etwas weh tut, gibt es Salben und Tabletten dagegen und schwups, schon sind die Alten wieder jung.
Auch beim Sex ist nicht tote, sondern volle Hose angesagt. Naja, das klingt nach Inkontinenz, ich meine ausschließlich den genitalen Bereich. Laut Udo Jürgens beginnt das Leben erst mit 66 Jahren, dann aber richtig! Angeblich ist die Hälfte aller 60 bis 70Jährigen sexuell aktiv. Habe ich in einer Zeitung gelesen. Wie oft und wie lange stand in dem Artikel nicht, aber irgendwie habe ich das Gefühl, der Leistungsdruck nimmt mit zunehmendem Alter nicht ab, sondern zu.
Trotz aller Verdrängungen: Die Existenz des Todes lässt sich nicht leugnen. Irgendwann ist Schluss mit Sex und anderen Problemen.
Wir werden sterben. Aber wie? Angehängt an Schläuche, unfähig, ein Wort zu sagen? Langsam dahinsiechend, um Luft ringend, bis endlich ein paar Organe gleichzeitig ihren Geist – und uns – aufgeben?