Krebs – Liebe – Punkt NULL
Stürme des Lebens
Ein verrückter Sommer ging zu Ende. Schicksalsjahr 2022. Ich war mitten drin in einer Paartherapie. Einer von diesen Sommern, von denen man nicht weiß, wie sie ausgehen werden. Ein Sturm war im August übers Land gezogen. Binnen Minuten alles verwüstet. Äste und Getränkekisten flogen mir auf dem Weg von der Arbeit um die Ohren. Ich hielt mir nur instinktiv meine Arme vors Gesicht. Als der Sturm sich legte und ein Bild der Zerstörung preisgab, dachte ich mir: Da bin ich wohl noch einmal mit dem Leben davongekommen. Nichts ahnend, dass der nächste Sturm schon vor meinem Leben stand.
Nur zwei Wochen später, ich war noch am Auskurieren einer Corona-Erkrankung, musste ich zur Vorsorgeuntersuchung. Weil schon mein Vater ein Prostatakarzinom hatte und letztlich auch daran verstorben war, gehörte der regelmäßige Besuch beim Urologen zu meinen Pflichtterminen. So auch am 2. September 2022, ein Datum, dass für mich noch eine schicksalshafte Bedeutung bekommen sollte. “Alles in Ordnung,” meinte mein Urologe zum Abschied, “wir sehen uns in einem Jahr wieder.” Keine zwei Wochen später dann der Anruf aus der Ordination, in dem die Sprechstundenhilfe mit ernster Stimme sagte: “Ihr PSA-Wert beträgt 15,15. Sie brauchen ein MRT!” Das ist er also, dieser entscheidende Moment, der sich ins Leben einträgt. Eine kurze Mitteilung. Sachlich, nüchtern, unbarmherzig. War wirklich ich gemeint? Das Gedankenkarussell beginnt zu kreisen. Noch ist nichts sicher, aber tief im Inneren kommt eine Ahnung auf. Von außen wohlgemeinte Ratschläge. “Warte erst einmal ab. Ein erhöhter PSA-Wert kann viele Ursachen haben.” Und doch richte ich mich ein. Auf das Schlimmste. Auf Krebs. Damit ich nicht aus allen Wolken falle. Wenn es heißt: Verdacht bestätigt. Sie haben Prostata-Krebs.
Bis dahin vergeht aber noch einige Zeit. Für einen Krebspatienten wohl die schlimmste Zeit: das Warten. Auf Befunde und Ergebnisse. Magnetresonanztomographie, Befundbesprechung, Computertomographie, Labor, MRT-unterstützte Prostata-Fusions-Therapie. Bisherige Diagnose: aggressives Prostata-Karziom, Gleason-Score 8, Hochrisiko-Tumor. Pathologisch vergrößerter Lymphkoten in rechter Leistengegend. Das sitzt erst mal. Den Ernst der Lage unterstreicht die Einleitung einer Hormonentzugstherapie durch meinen Urologen. Es folgen ein CT des Beckens und Abdomens sowie eine Knochenszintigrafie. Mittlerweile hat der Advent eingesetzt. Die Zeit der Erwartung, die Zeit der Ankunft. Was erwartet mich? Wo komme ich an? Und wieder kreist das Gedankenkarussell. Die Paartherapie habe ich abgebrochen. Mich hat der Mut zu einer klaren Entscheidung verlassen, weil ich Angst habe, keine Energie mehr für die Auseinandersetzung mit dem Krebs zu haben. Krebs eröffnet immer mehrere Fronten. Im Schein des Adventkranzes Dutzende Internet-Recherchen. Ich will nicht unvorbereitet sein. Am 2. Dezember dann die erste Hormonentzugs-Spritze unter die Bauchdecke, die von nun an alle drei Monate erneut verabreicht werden muss. “Ihre Libido wird in den Keller sausen”, meinte mein Urologe, “Sie werden mit Hitzewallungen, Müdigkeit und Stimmungsschwankungen zu kämpfen haben. Und am 13. Januar habe ich einen OP-Termin für Sie bekommen. Versuchen Sie nicht zu viel zu grübeln. Trotz allem frohe Weihnachten!”