Krebs – Liebe – Punkt NULL
Sommerflaute, Therapieloch und Quarantäne: Der Start in mein Leben 2.0
In den letzten neun Monaten hatte ich echt viel zu tun: Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung, unzählige Arzttermine, x-fache Blutabnahmen und und und… Seit ein paar Wochen bin ich nun aus der ärztlichen Obhut entlassen. In diesem Blogtext erzähle ich euch ein bisschen von meinem Start ins krebsfreie Leben, das sich zwischen Freude, Erleichterung, Tatendrang, aber auch Enttäuschung und Streit abspielte, von einer Quarantäne gekrönt und mit mehreren Piksen dauerhaft haltbar gemacht wurde. Außerdem habe ich eine Liste mit Lernzielen zusammengestellt, die mir und vielleicht auch anderen Betroffenen hilft, aus dem Therapieloch herauszukriechen.
Wieder am Leben
Nachdem die letzte Bestrahlung vorbei war und sämtliche Abschlussuntersuchungen hinter mir lagen, fühlte ich mich wie eine absolute Heldin (Sideinfo für treue Blogleserinnen und –leser: Seitdem nenne ich, bekennender Fashionjunkie mit viel zu vollem Kleiderschrank, einen Pulli mit der Aufschrift „Héroine“ mein eigen). Ich erfreute mich an vielen Likes in den sozialen Medien, an lieben Nachrichten und hatte einfach gute Laune. Ich fühlte pure Lebensfreude. Ich drehte die Musik im Auto voll auf und tanzte mit meinen Kindern stundenlang zu Andras Bourani und seinem wie für mich geschriebenen Lied „Wieder am Leben“ (https://www.youtube.com/watch?v=R7XDYHcE80o) durch das Haus.
Ein paar durchaus krebskompetente Personen in einem Umfeld hatten mich zwar vor einem „Therapieloch” gewarnt, das sich oftmals nach der Akut-Therapie vor Patientinnen und Patienten auftun würde (Danke für diesen wertvollen Hinweis!). Aber warum sollte sich das ausgerechnet vor mir auftun?
Da es mir – von Chemo-Nebenwirkungsresten abgesehen (Hört das Kribbeln in den Füßen eigentlich überhaupt mal auf?) – psychisch echt gut ging, wollte ich nicht sofort eine Anschlussheilbehandlung in einer Kurklinik machen. Auch Urlaub hatten wir keinen gebucht.
Ich wollte jetzt einfach zu Hause mit meiner Familie die Zeit genießen, mich mit Freundinnen treffen, Besucherinnen und Besucher empfangen in Cafés sitzen, ins Kino gehen und andere kleine Nettigkeiten erleben. Ich wollte den Alltag in einer entspannten Ferienversion erleben und einfach ein paar Wochen glückliche Unbeschwertheit genießen, bevor der Arbeitsalltag mich wieder haben würde.
Ich fühlte mich gut aufgestellt, hatte ich doch wertvolle Strategien für mich entwickelt, um mit dem Leben und mir und diesem Krebsmist klarzukommen. Ich startete also voller Tatendrang hinaus in mein zweites Leben, mein Leben 2.0. Die bedrohliche, sorgenvolle, getaktete Therapiezeit war vorbei. Nun wartete das pulsierende, gesunde Leben auf mich! Hinein!
Die Familie fetzt
Angesichts der Überschrift dieses Blogtextes ahnt die aufmerksame Leserin oder der aufmerksame Leser es bestimmt schon: Ganz so einfach war das mit meinem Wunsch nach einem schönen, lebenslustigen, glückseligen, aktiven Holl´schen Familiensommer gar nicht.
Die ersten Wochen in meinem Nach-Krebs-Leben verliefen alles andere als hitverdächtig und präsentierten sich als träge Sommerflaute. Irgendwie knarzte es so ziemlich überall. In der Familie herrschte viel Streit, viel Lärm, viel Geschrei. Die Nerven lagen bei allen blank, die Gemüter waren zartbesaitet. Die vielen Monate der Krebstherapie hatten an jedem von uns Fünf hier genagt und seine ganz individuellen Spuren hinterlassen. Während das Goldkind sich lautstark in Weinkrämpfen, Wutausbrüchen und dem starken Bedürfnis nach Zweisamkeit mit der Mama bemerkbar machte, zeigten der Mittelstürmer und das Teeniemädchen ihre Gefühlslage eher durch den Rückzug in ihre Zimmer oder wurden schon bei Kleinigkeiten aggressiv und laut. Auch der Göttergatte und ich erlebten keinen zweiten Frühling der glückseligen Verliebtheit, sondern eher stille oder launische Momente.
Spoiler: Rückblickend betrachtet war jede einzelne Träne, jedes einzelne Türenknallen, jeder einzelne Streit und jedes einzelne Motzen wertvoll und wichtig für uns. Aber zu diesem Zeitpunkt erkannte ich das natürlich nicht. Ich war an manchen Tagen einfach nur enttäuscht, frustriert und traurig über das unrunde Familienleben. Dafür hatte ich mich abgerackert?
Nüchtern betrachtet, ist das alles aber doch ganz rational erklärbar: Die letzten Monate waren sicherlich oftmals aufreibend, zermürbend und beängstigend für meine Familienmitglieder. Nun, da ich offiziell als krebsfrei galt, konnten sie endlich durchhängen, durften loslassen. Und hatten im Grunde gar keine Lust, mit mir das Leben zu feiern. Sie wollten sich zunächst einmal in einem wieder normaleren Leben einrichten. Wollten ihre Ruhe. Wollten Zeit für sich. Wollten Normalität und Alltag.
Ich verabschiedete mich also vom Anspruch einer heilen Instagram-Welt mit zufrieden spielenden Kindern, einem sich stets glücklich-verliebt anlächelnden Ehepaar, von Abendessen, die von angeregten Gesprächen untermalt sind und gemütlichen Familienvideoabenden. Ich ertrug lauthals schreiende und permanent streitende Kinder. Ich akzeptierte, dass der Göttergatte und ich schnell aneinandergerieten. Ich hielt Schweigen am Esstisch aus oder spielte den Alleinunterhalter, um die Stille zu übertönen. Ich stellte mich taub, wenn vorm Fernseher um Popcorn oder den besten Sitzplatz gestritten wurde. Ich verzog mich mit Schokolade und Buch und überließ dem Göttergatten das Sofa und den Fernseher und gönnte ihm seine Ruhe.
Wir alle mussten uns wohl eine Weile aneinander reiben, um uns wieder aneinander zu gewöhnen. Ich machte meinen Frieden mit dem rumpelnden Sommer. Und so nahm ich mit der Zeit immer gelassener hin, dass ich – kaum war das Foto der glücklich lächelnden Kinder von der Bobbahn oder vom Seeufer verschickt – Wutgeschrei, Kratzattacken oder beleidigtes Weinen zu hören und sehen bekam.
Ich war mir sicher, dass – schließlich hatte ich in meinem Lehramtsstudium ausreichend Pädagogik- und Psychologieseminare besucht und war schon zu lange Mutter – bewusst Zeit miteinander zu verbringen, körperliche Nähe, viele Gespräche und gewiss auch ein paar Tränen schon wieder eine „Happy Family“ aus uns machen würden. Für das Goldkind holte ich mir zudem noch therapeutischen Rat und alle Goldschätze kamen in den Genuss einer energetischen Fußmassage, die durchaus erdende Wirkung hatte (Danke, liebe Frau K.! Es war wie immer wunderbar!).
Passe ich noch hier hinein?
Nicht nur der Göttergatte und die Goldkinder hatten ihre Mühe mit der neuen krebsfreien Situation bei uns. In mir brodelte, rumorte, arbeitete es.
Ich hatte im Laufe der nervenaufreibenden, kräftezehrenden, zutiefst emotionalen und superintensiven vergangenen Monate so vieles erfahren, gespürt, gesehen und gedacht. Es war etwas Großes, etwas Elementares, etwas sehr Prägendes geschehen. Das alles hatte mich, mein Auftreten, meine Denkweise, meine Person verändert. Nun musste ich mich als “neue Annette” ins “alte Holl´sche Familiensystem” einnorden.
Damit stelle ich keine Ausnahme dar. Begibt man sich in die (Brust-)Krebscommunities in den sozialen Netzwerken oder liest Bücher von (ehemaligen) Krebslerinnen und Krebslern, bekommt man schnell den Eindruck, dass so gut wie jede (Brust)Krebspatient/in nach dem Ende ihrer Therapien ihr Leben in Teilen, manchmal auch radikal umkrempelt. Viele geben ihren Job auf. Häufig findet eine Ernährungsumstellung statt. Die meisten steigern ihre Bewegungseinheiten. Nicht selten wird Yoga praktiziert (Diese Krebs-Yoga-Ding hat sich mir noch nicht erschlossen. Aber ich habe mich zu einem Online-Kurs angemeldet und werde das mal testen.). Freundschaften werden beendet. Ehen geschlossen oder geschieden. Und und und…
Auch ich habe infolge meiner Diagnose und schon während meiner Therapiezeit über vieles in meinem Leben nachgedacht. Zwar wollte ich mein Leben nicht komplett umkrempeln – meine beiden Jobs übe ich nach wie vor mit Herzblut aus, meine Sportlichkeit war schon vorhanden – aber dennoch wurde und werde ich das ein oder andere Rädchen in meinem Lebensgetriebe neu justiert/en. Ich fühle mich definitiv anders, neu, gefestigter, besser.
Mal schauen, welche Neuigkeiten ich zu vermelden habe? Die „neue Annette“ legt Wert auf ein„positives Mindset“, „Selbstfürsorge“, „Achtsamkeit“ und „Mut“. Dies zeigt sich, indem ich
- freundlich, aber bestimmt „Nein!“ sage, wenn ich etwas nicht möchte oder schaffe.
- kein schlechtes Gewissen habe, wenn ich etwas für mich tue und die Familie deshalb warten muss.
- Entscheidungen häufiger aus dem Bauch heraus treffe.
- meine Gesundheit nicht als gegeben, sondern als zu schützendes Gut, wahrnehme.
- meinen Kalender um einige Termine reduziere.
- mir bisher unbekannte oder noch mich noch nie getraute Dinge tue, esse, ausprobiere.
- sich bietende Gelegenheiten annehme, ohne sie lange zu hinterfragen.
- immer öfter in den Tag starte, ohne ihn von morgens bis abends durchgeplant zu haben.
- weniger daran denke, was und wie andere es machen, sondern es selbst tue.
Möglicherweise stehst du als Betroffene/r jetzt nach dem Ende deiner langen Therapiezeit auch an einem Punkt, an dem dir manches in deinem bisherigen Leben komisch vorkommt und du dich anders fühlst. Dann nimm dich und deine widersprüchlichen Gefühle an. Nimm dir die Freiheit heraus, über dich und deine Träume und Ziele nachzudenken:
- Passt meine Arbeit noch zu mir?
- Möchte ich etwas in meinem Alltag verändern? Wenn ja, wie kann ich das schrittweise angehen?
- Wie geht es mir in meiner Partnerschaft und Familie? Möchte ich hier vielleicht Dinge ändern (z.B. Aufgaben im Haushalt neue verteilen, feste Paarzeiten einführen).
- Habe ich Dinge in den letzten Jahren aufgeschoben, die ich jetzt in Angriff nehmen möchte (ein Buch schreiben, eine Kreuzfahrt machen usw.)
- Gibt es Dinge, die ich auf jeden Fall einmal machen möchte (z.B. ein Fallschirmsprung)
- Will ich bestimmte Orte, Ländern, Städte bereisen?
- Möchte ich meine Ernährung ändern (z.B. Zucker reduzieren, auf Fleisch und Wurst verzichten)?
- Rauben mir bestimmte Menschen oder Aufgaben in meinem Leben Energie und Lebensfreude und ich sollte mich besser von ihnen verabschieden?
- Welche Stressfaktoren in meinem bisherigen Leben kann ich reduzieren oder ganz aus meine Alltag verbannen?
Möglicherweise freust du dich aber auf einfach darauf, wieder in dein bisheriges Leben zurückzukehren. Dann tu das! Eine Krebserkrankung muss nicht zwangsläufig dazu führen, dein komplettes Leben umzukrempeln. Ist es für dich weiterhin stimmig, dann lebe es genauso weiter! Du musst nicht dem Instagram-Mainstream folgen und auf Druck etwas verändern zu wollen, was für dich nicht verändernswert ist, einfach weil es so für dich gut ist, wie es schon war.
Ich bin jetzt sicherlich keine vollständige Neufassung, aber definitiv eine verbesserte Version meines alten Ichs. Da gibt es Denkweisen, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mir an mir weiterhin gut gefallen oder die ich schlicht und ergreifend nicht ablegen kann (Bitte, lieber Göttergatte, verzeih mir das Quasseln schon am frühen Morgen und die Socken im Bett, selbst bei 30 Grad!). Manches an mir war ja auch gar nicht so übel, wage ich mal zu behaupten. Und an meiner Partnerschaft zweifelte ich während keiner Sekunde, auch wenn der Beziehungshimmel in den letzten Monaten und vor allem zum Ende der Akut-Therapiezeit wolkenverhangen war und die Paarzeit gegen Null ging, weil die Kinder mal wieder “wichtiger” oder vielleicht auch einfach nur lauter waren.
Aber es gibt durchaus Ansichten oder Vorlieben, die ich im Laufe meiner Krebserkrankung für mich als passend und wichtig erkannt habe und die anders, neu, vielleicht auch gewöhnungsbedürftig sind. Ich gebe zu: die „Annette Version 2.0“ eckt in der Familie und dem engeren Umfeld nun manchmal an. Ab und zu irritiert sie nicht nur andere, sondern sogar sich selbst. Manches muss sich erst mal setzen und einspielen.
Aber wisst ihr was? Ich fühle mich so als Mischung zwischen “alt” und “neu” um ein Vielfaches besser und will nicht mehr zurück in mein Leben 1.0! Ich bin durch meine “Erfahrungen dieselbe und dennoch eine neue Frau.” (Susanne Weed HeilWeise) Und auch wenn für den Göttergatten, der nun schon über zwanzig Jahre an meiner Seite ist, nun vieles sehr lang „so war“ und jetzt einfach gar nicht mehr „so ist“, gab er mir die wunderbare Rückmeldung, dass ihm „die neue Annette“ noch viel besser gefällt als die alte. Das ist herrlich, das ist schön, das gibt mir Kraft und Mut, meinen Weg genauso noch weiterzugehen.
Delta-Zwangspause
Ich erstellte mit den Kindern zusammen eine Bucket-Summer-List, eine Sammlung von Unternehmungen, die uns der Sommer bescheren sollte. Diese enthielt einige wenig spektakuläre, kleine, aber dennoch feine Sachen wie eine Zugfahrt in das schöne Breisgaustädtchen in der Nähe, der langersehnte und immer wieder aufgeschobene Aufbau des Trampolins (Danke, liebe Großeltern für das großzügige Geschenk!), einen Kinobesuch nach langer Coronaverbotszeit, der Probebusfahrt zum Gymnasium, das der Mittelstürmer nach den Sommerferien besuchen wird, dem Luxus eines Eisbechers in der Eisdiele anstelle der Waffel auf der Hand und und und.
Durch diese Aktionen groovten wir uns tatsächlich immer mehr in den Normal-Familien-Modus ein und ich war guter Dinge, dass mein Plan „Back to normal“ tatsächlich aufgehen und das Geschrei, die Streitereien und meine geistige Unordnung sich langsam, aber sicher legen würde/n.
Aber dann veränderte ein Anruf alles: Im Ferienprogramm, dass das Teeniemädchen und der Mittelstürmer besuchten, trat ein positiver Corona-Fall auf und auf einen Schlag saßen knapp 50 Kinder und Jugendlichen vierzehn Tage lang in Quarantäne zu Hause. Trotz negativer PCR-Test-Ergebnisse und somit glücklicherweise gesunder Kinder durften die Beiden unser Haus bzw. Grundstück nicht verlassen (Ich verzichte an dieser Stelle auf eine Diskussion über Sinn und Zweck dieser Aktion, sonst verliere ich noch einige meiner endlich fülliger werdenden Haare.).
Diese Quarantäne war der Super-Gau! Mir reichte es einfach! Ich ging die Wände hoch und klagte das Universum an. Hatten wir nach Corona, Chemo, Wasserrohrbruch, miesem Sommerwetter und zig anderen großen und kleinen Miseren nicht langsam genug erlebt?Wer hatte etwas gegen mich? Was hatte ich der Welt Böses getan!
Tja, was soll ich sagen? Ich bin auch nur ein Mensch und hängte mich ein paar Tage richtig in diese miese Stimmung rein. Das positive Mindset konnte mir nun mal ein paar Tage gestohlen bleiben! Kommunikationsexpertinnen und -experten würden die Hände übedr em Kopf zusammenschlagen angesichts der inflationären Häufung der No-Go-Wörtchen “nie” und “immer” in meinen Sätzen: „Warum trifft es immer uns?“, „Warum lässt es mich nie aus?“, „Warum muss ich immer…?“, „Warum darf ich nie..?“, „Alle anderen können immer…”…
Um aus diesem Text keine Tragödie zu machen oder schlecht gelaunte Leserinnen und Leser zu erzeugen, die dann ihrer Familie ähnlich miesgelaunt gegenübertreten wie ich es während des Delta-Supergaus war, überlasse ich es jedem selbst, noch weitere Sätze anzufügen. Stattdessen entschuldige ich mich hier ganz öffentlich erneut beim Göttergatten und den drei Goldschätzen. Das waren definitiv zu viele negative Vibes auf einmal, die ich da verschickt habe.
Raus aus dem Tief und einfach treiben lassen
In vielen nächtlichen Stunden (Dank meiner Anti-Hormontablette bin ich quasi schlaflos und habe sehr viel Zeit zum Nachdenken zwischen Mitternacht und dem Morgen…) sowie einer Sitzung bei meiner Psychotherapeutin durchdachte ich den nüchternen Start in mein Leben 2.0.
Und irgendwann machte es dann “Klick” und ich schloss meinen Frieden mit allem rumorig-wirren-ungerechten Getöse, was da in mir vonstatten ging! Das “Warum“ ist unwichtig, es geht um “Wozu“. Ich musste nicht rückblickend überlegen, wie es zu etwas gekommen ist. Das ist schließlich überhaupt nicht möglich, da es schon geschehen ist. Es geht darum, die Situation anzunehmen und zu hinterfragen, was daraus möglicherweise sogar Positives entstehen kann. Der Blick muss also in Richtung Zukunft gehen, um mit der Gegenwart klarzukommen und die Vergangenheit getrost sein lassen zu können.
Müßig zu überlegen, warum ich meinen Krebs bekommen habe. Viel schöner doch zu sehen, dass ich jetzt gesund bin und eine gute Zukunft vor mir habe. Unnötig, mich darüber aufzuregen, wie es zur Quarantäne gekommen war. Besser ist es zu sehen, dass sie uns chillige Tage im Schlafanzug, mehrere Überlebenspaketen der besten Schwester der Welt (Danke, liebe P.!), viel exklusive Goldkind-Mama-Zeit (Das durfte auf Nachfrage beim Gesundheitsamt das Haus mit der geimpften Mama verlassen.), einen mit zig 1000-Puzzles bedeckten Zimmerboden (Konzentrationstraining hoch zehn) sowie Schulranzen, die schon vor dem letzten Ferienwochenende von sämtlichen Resten des vergangenen Schuljahres befreit und sogar schon mit akkurat gespitzten Stiften, ein paar eingebundenen Büchern und einem Heftvorrat ausgestattet sind. Egal, ob das Goldkind wegen meiner Erkrankung, wegen der langen Lockdownzeit zu Hause oder einfach wegen einer besonderen Phase in ihrer Entwicklung so viel schrie. Wichtig war doch, dass sie sich bemerkbar machte und wir erkannten, dass sie Hilfe brauchte.
Sinnlos mich darüber zu ärgern, dass ich im Moment häufiger depressiv-traurige Tage habe als während der Akut-Therapie. Mir ist klar geworden, dass es nicht darum geht, möglichst schnell wieder auf „Normal“ umzustellen, sondern die Zeit verstreichen zu lassen, die es nun mal eben braucht.
Schließlich hatte ich Krebs. Ich habe eine Chemo- und eine Strahlentherapie durchlaufen, befinde mich weiterhin in der Antikörper- und seit zwei Monaten auch in der Anti-Hormontherapie. Das muss sich erstmal setzen. Das muss erstmal heilen.
Ich begriff, dass ich nicht sofort gut sortiert sein und mein Leben, mich, meinen Körper, meine Gefühle im Griff haben konnte. Und vor allem, dass ich das auch gar nicht musste! Ich gestand mir zu, schwach zu sein, zu weinen und zu hadern.
Ich bin in einer Phase, die mich zeitweise ins Straucheln bringt und mir dunkle, traurige Tage beschert, wie ich sie während der Akut-Therapie nicht sehr häufig hatte (Inwiefern diese kleine Tablette dazu beiträgt, die ich täglich schlucke, muss ich noch herausfinden. Dazu mehr in einem Extra-Blogbeitrag zur Anti-Hormontherapie.). Ich habe mir erlaubt, mich eine Weile in ein Loch zu verkriechen. Ganz hineinzufallen, war mir zu gefährlich. Dazu klettere ich einfach zu schlecht bzw. sehe ich auch an den weniger guten Tagen viel zu viel Gutes, Schönes, Lebenswertes, das ins Loch hineinleuchtet.
Ich habe dieses krebsige Wesen nicht bestellt. Aber ich habe das Recht, aus dieser Lieferung das Bestmögliche für mich und mein Leben herauszuholen, oder?
Meine Lernziel-Liste für ein Leben nach dem Krebs
Nach aktivem Überlebenskampf unter permanenter ärztlicher Beobachtung und mit einem ganz klaren Ziel vor Augen, muss ich nun lernen, in ein normales Leben überzutreten, in dem es einen krebsigen Teil gibt, der viel mit “eventuell” und “potentiell möglich” zu tun hat, mich aber nicht ständig in Habachtstellung versetzt.
Vielleicht möchtest du, liebe Betroffene oder lieber Betroffener, die/der du dich vielleicht in einer ähnlich löchrigen Situation befindest, dich gemeinsam mit mir auf den Lernweg begeben und Lernziele abhaken? Das wäre schön!
Lernen wir doch gemeinsam…
… uns der potentiellen Möglichkeit eines Rezidivs oder einer erneuten Krebserkrankung bewusst zu sein, diese aber im Alltag nicht ständig vor Augen haben. Wir haben nichts davon, wenn wir darauf warten und darüber vergessen zu leben.
… zu akzeptieren, dass da noch immer Nebenwirkungen der Therapien vorhanden sind oder neue dazukommen und dass diese uns phasenweise körperlich oder geistig einschränken oder schwächen.
… uns zu erlauben, dass wir deshalb auch mal auf dem Sofa liegen oder uns so richtig selbstbemitleiden zu dürfen. Wir haben wahrlich Großes geleistet und genug gelitten.
… uns einzugestehen, dass wir nicht vom ersten Arbeitstag an wieder 100 Prozent geben können und in Projekten, Sitzungen und im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen genau da ansetzen, wo wir vor unserer Krankmeldung aufgehört haben.
… in jedem noch so bescheiden verlaufenden Tag etwas Positives zu entdecken und sei es noch so miniminiklein.
… so viel wie möglich zu lachen. Neben dem täglichen Apfel, der angeblich den Doktor fernhält, ist das ja anscheinend die „beste Medizin“ und hat Psychologinnen und Psychologen zufolge definitiv befreiende und heilsame Kräfte.
… die Wörtchen „Nein“ und „Stopp“ positiv zu besetzen und sie ohne schlechtes Gewissen einzusetzen. Achtsamkeit und Selbstfürsorge kommen uns und unseren Lieben zugute.
… unsere Ängste und Sorgen bei psychologischen oder psychotherapeutischen Fachleuten auszusprechen und nach jeder Sitzung mit etwas weniger Ballast nach Hause zurückzukehren.
… dass uns nicht jede Schlagzeile über einen an Krebs gestorbenen Promi oder die Nachricht über den Metastasenfund bei einer/m Bekannten in Schrecken versetzt.
… den Fokus auf die positiv verlaufenden Krebsgeschichten zu lenken, bei denen Menschen nach überstandener Therapiezeit nicht mehr erkrankten oder bei denen metastasierte Patientinnen und Patienten noch lange Zeit gut leben konnten.
… unseren gewählten Therapieweg und unser Verhalten danach (schulmedizinisch oder alternativtherapeutisch, AHB/REHA oder Weltreise, Brokkoli oder Schokolade, psychologische Hilfe oder Decke-über-den-Kopf-Taktik) vor unseren Mitmenschen nicht zu rechtfertigen. Wir haben ihn gewählt, weil wir ihn für den richtigen halten.
…uns und unserem Körper (wieder) zu vertrauen. Im Grunde wissen wir doch längst, was uns gut tut und was nicht.
…uns einzugestehen, dass wir mit manchen Menschen nach unserer Diagnose nicht mehr klarkommen. Sehen wir sie als Freundinnen und Freunde an, die uns in einer anderen Phase unseres Lebens gut getan haben.
… unser verändertes Nach-Krebs-Ich zu lieben.
Ich weise an dieser Stelle sehr gern auf die Website von Diana Neumann hin. Sie hatte selbst Brustkrebs, hat Chemo-, Strahlen-und Anti-Hormontherapie erlebt und ist zwischenzeitlich als Mentorin für Brustkrebspatientinnen tätig. Der Fokus ihrer Arbeit und der Homepage liegt auf der Zeit nach der Akut-Therapie. Ich habe dort viele hilfreiche Artikel, tolle Podcasts und nette Downloads wie beispielsweise einen „Abschiedsbrief an meinen Krebs“ entdeckt. Allen Betroffenen oder auch deren Angehörigen rate ich, dort einmal vorbeizusurfen oder auch per Mail oder Telefon direkt mit Frau Neumann in Kontakt zu treten.
Den Restsommer genießen
Nun liegen noch ein paar Tage vor mir, bevor ich wieder ins Berufsleben zurückkehre. Ich lade dich, liebe Leserin und lieben Leser, herzlich ein, diese mit mir gemeinsam zu genießen. Lasst uns die Spätsommersonnenstrahlen auf der Haut spüren, im Freibad die letzten Bahnen für diese Saison ziehen, in der Regenjacke eingehüllt durch den dieses Jahr unvermeidlichen täglichen Schauer zu spazieren, den ersten Tatort nach der langen Sommerpause anschauen, Kaffee aus der extragroßen Tasse trinken, mit dem Göttergatten das Eheleben bei einem Restaurantbesuch zu zweit reloaden, die ersten Lebkuchen und Spekulatius kaufen. Nicht zuletzt lasst uns Musik hören und tanzen (eine Studie der Uni Freiburg aus dem Jahr 2013 untermauert die bedeutsame Wirkung einer Tanztherapie für Krebspatientinnen und – patienten, siehe https://daskwort.de/mit-krebs-leben/sport-und-bewegung/tanzen-macht-den-kopf-frei-bei-krebs ).
Und falls sich zwischen all der Freude und dem Lebensglück miese Stimmung, traurige Gedanken oder angstvolle Momente auftun, dann kämpfe nicht dagegen an. Auch das ist das Leben, oder? Kein Tag ist bis ins letzte Detail planbar, keiner gleich wie der andere. Stimmungsänderungen sind genauso wie Wetterumschwünge ganz plötzlich möglich. Tränen gehören genauso in ein Gesicht wie ein strahlendes Lächeln, sonst hätten die Tränendrüsen ja gar keinen rechten Sinn.
Gestehe dir zu, dich in ein Loch zu verkriechen. Versprich mir aber, dass du nach einer Weile nach vorne blickst, das Licht siehst und wieder ins Leben zurückkehrst. Es lohnt sich allemal!