Annette fragt…Birgit Göttlich
Sinnvolle Nachmittagsgestaltung
Das Aquarellbild ist gerade mal wieder am Trocknen. Bevor ich eine weitere Schicht grün auf die Blätter im Hintergrund und filigrane braune Striche im Gesicht der Frau im Zentrum des Bildes setzen kann, muss ich wieder eine Weile warten. Das mit der braunen Flauschdecke bedeckte Bett lächelt mich an und mein Handy mit der berühmt berüchtigten zeitfressenden Fotoapplikation wirkt plötzlich sehr attraktiv. Nein! Ich möchte etwas Sinnvolles tun.
Ein Glas Wasser und ein geöffnetes Fenster später, entscheide ich mich für die Moblisationsübungen meines Physiotherapeuten. Ein paar minimale Bewegungen in der Hüfte, Liegestützen an der Wand, Rückenübungen auf dem Bauch. Sieben Wochen nach der Operation, in der mein Tumor (Sunny nannte ich das hochaggressive Sarkom in meinem linken Oberschenkelknochen kurz nach den ersten MRT-Bildern) durch ein Titanimplantat (Bonny) ersetzt wurde, ist mein Bewegungsradius immer noch begrenzt. 90 Grad neigen, etwas belasten, minimal rotieren, adduzieren und abduzieren. Aber für mich Bewegungsenthusiast, ist jede Bewegung mehr ein Gewinn. Eine Planke darf ich! Endlich!
Das Bild ist leider immer noch nicht trocken. Also drehe ich mich ein paar Mal suchend im Kreis bis meine Augen den Laptop finden. Schreiben macht mir Spaß. Das könnte ich mal wieder tun. Sollte ich aber davor nicht vielleicht duschen? Uff, Socken aus, Klamotten aus, Socken an, hoffen das der Kreislauf mitmacht und der Rest meiner bereits ausfallenden Haare nicht im Abfluss bleiben. Gar keine Lust das sauber zu machen. Ich rieche kurz unter meinen Armen. Geht. Ist ja nur meine Familie im Wohnzimmer. Also gehts auf den Flauschteppich, mit Wasserflasche, Laptop und einsockig. Die Mobilisationsübungen habe ich ohne Socken gemacht, damit ich nicht wegrutsche. Und zum Anziehen des linken Sockens hatte ich dann gerade keinen Nerv. Mit der rechten großen Zehe den Socken im genau richtigen Winkel aufzuziehen, weil ich mich ja nicht nach vorne beugen kann, versuche ich vielleicht später nochmal. Oder ich friere mir die Zehen ab, bis sich ein Elternteil erbarmt. Schritte auf den Treppenstufen. Rettung naht. Essen ist in 5 Minuten fertig.
Und dann schaut man gemeinsam einen Film und todmüde fall ich ins Bett. Noch 5 Tage vor Beginn des nächsten Zyklus. Was kann ich noch alles schaffen, bevor ich wieder vier Tage im Krankenhaus und eine Woche daheim vor Übelkeit und Fatigue ins Leere starre?
Ein Musical auswendig lernen, Spanisch üben, mich in Recherchen zur Chemotherapie verlieren, Gitarre spielen, spazieren gehen, kochen, telefonieren, puzzlen, backen, ins Handy starren, ins Leere starren,… Was ist überhaupt sinnvoll? Nicht nur jetzt während der Krankheit, sondern im Generellen? Oder ist es das gar nicht?