Erleichterung vs. Belastung
Schokolade für alle
„Coffee keeps me going until it’s time for gin.“ Als ich diesen Spruch auf einer Tasse im Supermarktregal lese, muss ich etwas schmunzeln. Seit meiner OP im vergangenen Herbst vertrage ich beides nicht mehr gut, weder Kaffee noch Gin. (Warum, dafür habe ich nur eine laienhafte Erklärung parat.) Gleichzeitig ist Gin für mich ein Symbol für Lebensfreude geworden. Nicht weil es für Ausgelassenheit Alkohol braucht — das ist Quatsch, sondern weil es auch mit einer potenziell tödlichen Krankheit und mitten in der Therapie gut ist, zwischendurch mal Fünfe grade sein zu lassen.
In Gesprächen mit einer Freundin, die ein Jahr vor mir an Brustkrebs erkrankte, stellte ich das immer wieder fest. Einerseits hat mit der Diagnose bei uns beiden die Gesundheit die absolut oberste Priorität bekommen, andererseits kann man es auch echt übertreiben. Das richtige Essen, genügend Schlaf, ordentlich Bewegung, bloß keine schädlichen Substanzen. Stattdessen Nahrhaftes für Körper und Seele. (Stichwort Himbeeren. Lol.) Alles wichtig und richtig, doch auch Krebsbetroffene sind Menschen. Und damit es der Seele gut geht, darf die Kontrolle ruhig auch mal flöten gehen. Dafür steht symbolisch der Gin.
Schon als Kind habe ich diese Erkenntnis bestechend überzeugend argumentiert. Wenn ich krank war, verlangte ich Schokolade. Kam dann von meiner Mutter Widerspruch, sagte ich: „Nur wenn ich mich wohlfühle, werde ich gesund. Und wenn ich Schokolade esse, fühle ich mich wohl.“ In diesem Sinne müssen Himbeeren und Gin (im übertragenen Sinne) ganz einfach in die richtige Balance gebracht werden. Je nach Tagesform. Und die kann in der Tat recht unterschiedlich ausfallen.
Wenn dir ein Stück deiner Lunge herausgeschnitten wird, zwingt das deine Kondition erstmal ziemlich in die Knie. Selbst nach mittlerweile elf Monaten merke ich in vielen Situationen noch immer Einschränkungen. Heftig war vor allem das erste halbe Jahr. Man sagt, der Schock nach einer Krebsdiagnose kann mehrere Monate anhalten. Die Neuorientierung, die Sorgen und Ängste, der Kontrollverlust — all das kostet Kraft, auch ohne Chemotherapie und/oder Bestrahlung. Beides ist mir bislang aufgrund einer Hoffnung spendenden Gewebeanalyse erspart geblieben.
Nach wie vor habe ich bisweilen heftige Erschöpfungsphasen. Nicht mehr so oft wie am Anfang, aber hin und wieder dann doch. Vermutlich sind sie einem Cocktail aus körperlicher Anstrengung und mentaler Verarbeitung geschuldet. Auch psychische Prozesse rauben Energie. Die körperlich eingeschränkte Leistungsfähigkeit erkläre ich Außenstehenden so: „Im Augenblick habe ich einen Akku in der Brust, der nur mit 66-prozentiger Leistung fährt.“ Soweit zur letzten Messung meiner Lungenfunktion. Jeden Tag arbeite ich daran, meine Fitness zu verbessern. Mit den 66 Prozent möchte ich mich nicht abfinden. Ich denke, da geht noch was.
Zu meinem Programm zählen tägliche Spaziergänge, regelmäßige Touren auf meinem Fahrradergometer mit langsam steigender Belastung, Salsa-Fitness im Wohnzimmer und neuerdings wieder Badminton im Sportverein — das spiele ich seit mehr als zehn Jahren. Die Bewegung tut mir gut und ich verschiebe meine Komfortzone langsam, aber stetig.
Um der Erschöpfung etwas entgegenzusetzen, habe ich es im Frühjahr auch mit Kaffee probiert. Ich habe früher schon selten Kaffee getrunken. Diesmal führte eine einzige Tasse zu Herzrasen und Übelkeit. Offensichtlich habe ich nicht nur einen neuen Akku bekommen, sondern auch eine verminderte Koffeinaufnahmefähigkeit. Mit dem Alkohol verhielt es sich übrigens ganz ähnlich. Seither mache ich bei Erschöpfung vor allem eins: ausgiebige Pausen.