Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

Kämpfen, müssen, dürfen und wollen: Auf den Blickwinkel kommt es an

Als Krebsbloggerin mit Deutschlehrerinnenstatus und einem übervollen Bücherregal wurstle ich mich in meinem neuesten Blogtext durch verschiedene Verben, die einem im Leben mit und nach Krebs ständig über den Weg laufen. Dabei komme ich vom heldinnenhaften KÄMPFEN übers robotermäßige MÜSSEN und SOLLEN, switche zum menschlichen DÜRFEN und lande beim selbstbestimmten KÖNNEN und WOLLEN. Wer also jetzt schon weiß, dass ihn eine solche Klugscheißerei auf die Nerven geht, die oder der sollte lieber einen anderen Text hier auf meinem Blog lesen. Alle anderen lade ich herzlich dazu ein, mit mir zusammen die Worte auf die Goldwaage zu legen.

Abgesang aufs KÄMPFEN

Ich bekam recht kurz nach meiner Krebsdiagnose eine Tasse mit der Aufschrift „Heldin“ geschenkt. Irgendwie schmeckt mir der Kaffee daraus aber mittlerweile nicht mehr so gut wie über weite Strecken meiner Therapiezeit.

Denn ich fühle mich absolut nicht heldinnenhaft. Nicht stark. Oder sonderlich mutig. Nicht wie jemand, die etwas superwomanmäßig Tolles geleistet hat. Allerdings wird mir das immer wieder gesagt. Aber was andere so von einem denken, ist ja sehr fassadengeprägt. Und die wirkt vielleicht taff und glatt und KÄMPFERISCH.

Aber bitte glaubt mir, in meinem Inneren da sah es oft anders aus, ganz anders. Ich konnte nicht immer nur an den nächsten Schritt denken. Ich habe nicht wie Superwoman geKÄMPFT, sondern bin ich einfach einen von Ärzt*innen vorgeschlagenen Weg gegangen. Und schon gar nicht habe ich geSIEGT. Meine Therapien haben angeschlagen.

Im Chemo-Bestrahlungs-Tunnel erarbeitete ich mir ein positives Mindset und arbeite weiterhin daran. Dennoch kenne ich psychische Täler und körperliche Grenzen. Ich bin absolut keine heldenhafte Maschine, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Fehlern, Ängsten und unzähligen Unperfektheiten. Auch hier, kein KÄMPFEN, sondern ein Hinnehmen und Ertragen.

Wenn ich ganz genau hinschaue, dann erkenne ich, dass ich recht robotermäßig tat, was ich MUSSTE. Schließlich wäre die Alternative ein schwerkrankes Leben und in letzter Konsequenz der Tod gewesen. Ich finde, das war keine heroische Leistung, sondern purer Überlebenswille.

Und ganz ehrlich… In meinem Leben nach Krebs bin ich nicht engelsmäßig voller Dankbarkeit, Demut und Güte unterwegs. Ich frohlocke nicht 24/7 über die kleinen Dinge des Lebens, auch wenn ich diese durchaus mehr wahrnehme. Nein, ich kann mich weiterhin über Kratzer im Parkett oder streitende Kinder aufregen und gebe zu viel Geld für alles Mögliche aus. Ich bin nicht Spiderman und wahrlich kein Engel!

Vielleicht habe ich mehr mentale Stärke als früher. Die hilft im sorgenbehafteten Nachsorge-Irrsinn. Und ja, ich darf wohl sagen, dass mein Krebsblog anderen Zuversicht gibt. Möglicherweise hat der Krebs-Crash auch dazu geführt, dass ich nun gelassener und mit mehr Selbstliebe am Start bin. Aber ich trage dennoch kein Heldinnen-Cape, sondern ganz oft Augenringe und Tränensäcke, weil ich vor Angst nicht schlafen kann. Da waren einfach zu viele Momente, die ich erlebte und nie vergessen werde. Iron Man wäre da vielleicht längst schon drüber weg.

Leute, lasst uns der Realität ins Auge blicken: Ich bin keine Heldin. Ich bin ein Mensch, der sich mit einer Herausforderung namens Krebs konfrontiert sah. Der ganz viel getan hat, was er tun MUSSTE. Dem ein – Stand heute – Happy-End seiner Krebsreise vergönnt war. Nicht mehr und nicht weniger.

Sideinfo: Mit dem ewigen Kampf und dem steten Krieg, die uns Krebsbetroffene oft nachgesagt oder empfohlen werden, habe ich mich in einem anderen Blogtext ausführlich beschäftigt. Lest gern mal rein, wenn ihr den Text noch nicht kennt!

Bitte mehr DÜRFEN und WOLLEN als MÜSSEN und SOLLEN

Als Krebskranke bekommt man viele Ratschläge, Anregungen und Tipps, um gesund zu werden oder es zu bleiben. Man erstellt sich dann quasi eine Liste “Was ich tun MUSS, um den Krebs ein Schnippchen zu schlagen!”

Hast du (Brust-)Krebs MUSST du kämpfen, MUSST  du auf deine Ernährung achten, MUSST du Sport machen, MUSST  du dir gegenüber achtsam sein, MUSST  du dir Pausen gönnen, MUSST  du, MUSST  du, MUSST  du….

In der Anfangsphase meiner Erkrankung und während der Akuttherapie war durch diese ganzen MUSS-Vorgaben viel los in meinem Kopf. Zusätzlich zu Arztterminen, Panik und Angst überdachte ich meine Ernährung, mein Leben an sich, änderte dieses, verzichtete auf jenes, verweigerte mir das und verbot mir dies. Schließlich MUSSTE  ich doch alles dafür tun, um mich vor einem Krebs-Revival zu schützen.

Als dann die Bestrahlung vorbei war, las ich weiterhin viele Texte, informierte mich im Internet und  versuchte so gut es ging, alle Risikofaktoren auszuschalten, indem ich Vegetarierein wurde, meine Kosmetika auf hormonellen Inhaltsstoffe überprüfte, den Zucker- und Alkoholkonsum drastisch bei Null hielt und und und. Ich denke, so geht es vielen Betroffenen da draußen, die ratlos auf der Suche nach dem richtigen Weg sind, um ein Rezidiv oder eine Neuerkrankung zu verhindern.

Doch als dann wieder etwas mehr Normalität und Alltag eintraten, bemerkte ich, dass diese ganzen Sätze mit erhobenem Zeigefinger mich nicht weiterbrachten. Mir wurde klar, dass es mir so auf lange Sicht nicht gut gehen und ich mich so nicht unbedingt gesünder und besser fühlen würde. Ich würde unzufrieden werden, wenn ich mir jegliches Stück Schokolade, jeden Schluck Sekt oder auch ein kräftig geschminktes Fasnachtsgesicht verweigern würde, weil ich meinte es tun zu MÜSSEN.

Dieses ewige MÜSSEN lähmte, ängstigte, bremste mich aus und würde mich auf lange Sicht echt unzufriedenmachen. Unterm Strich und auf Dauer fühlte sich das zwanghafte Achtsam-Sportlich-Zuckerfreisein-MÜSSEN gar nicht so gut an. So würde ich nicht heilen, so würde ich eine verbissene Spaßbremse werden.

Denn genau wie Justin Timberlake (dessen Lied „Say something“ für mich eines DER Lieder wurde, die ich in Chemonächten immer, immer, immer wieder hörte) fühlte ich mich irgendwie gefangen in einem Netz aus Erwartungen und Belehrungen:

But I can’t get help myself, no, I can’t help myself, no, no, caught up in the middle of it.“ 

Mittlerweile weiß ich, dass es mir nicht gut tat und tut, wenn ich mir selbst zu viel MUSS auferlege oder Tipps von außen als MUSS auffasse. Denn das löst zwangsläufig Stress aus, erzeugt Druck und verdirbt die Freude an dem, was ich tue. Eigentlich oft schon, bevor ich es tue. Und es geht uns wohl allen so. Man fühlt sich angespannt oder vielleicht sogar gelähmt, wenn man weiß, dass man etwas tun MUSS, sich innerlich aber eigentlich etwas dagegen wehrt.

Ich kam und komme besser mit der Situation klar, wenn ich den Fokus auf das „Annehmen“, das „Akzeptieren“, das „Bewusst weitermachen“ lege und mich vom MÜSSEN löse.

In einem Zwischenschritt stieg ich erstmal ganz sanft auf das SOLLEN um. „Du SOLLST täglich einen Esslöffel Leinöl zu dir nehmen“ klingt doch weitaus freundlicher als „Du MUSST aber unbedingt noch verschiedene Supplements zu dir nehmen.“

Mittlerweile habe ich für mich einen guten Weg gefunden. Ich bin keinesfalls im Zeitlupentempo unterwegs oder habe meine Arbeitsszeiten drastisch reduziert, nein!, ich bin wieder in meinem „Fleißiges-Bienchen-Status“ von vor der Erkrankung angekommen. Dennoch gestaltet sich mein Leben jetzt anders. Der Schuss vor den Bug hat mir gezeigt, dass ich mich in dem ganzen Trubel nicht vergessen sollte. In meinem Leben tauchen nun häufiger die Wörtchen „Nein“, „Aber“ und „Stopp” auf.  Ich denke ans  Pausemachen und Fokussieren. Ich habe mein BeDÜRFnisse mehr im Blick (Haha – das erkenne ich jetzt erst, was sich da für ein Verb drin versteckt!). Jaaa, ab und zu macht die wuselige Biene tatsächlich eine Erdungsübung, trinkt einen Kaffee, ohne nebenher zu tippen. Sagt ein Treffen ab. Drückt dem Goldkind das Tablet in die Hand. Hält mitten am Tag kurz inne. Aber all das nicht, weil ich es MUSS, sondern weil ich es KANN und noch schöner, weil ich es so WILL.

Sabrina Han, Sportwissenschaftlerin, zertifizierter Schlafcoach und Schokoholic (Ganz ehrlich: Jemand, der sich selbst diese Berufsbezeichnung gibt, kann einem ja eigentlich nur sympathisch sein, oder?) spricht in ihrem Interview bei #annettefragt genau diesen Bereich zwischen MÜSSEN und DÜRFEN und schöner noch WOLLEN an.

Sie ist sich sicher, dass dein „innerer Schweinehund leiser bellt”, wenn du „Dinge tust, die Spaß machen, dann wirst du gerne losgehen (…) und langfristig am Ball bleiben”. Sie bezieht das zwar weitestgehend auf den Sport und die Bewegung, aber ich finde, man kann das ganz toll auf das Leben an sich übertragen.

Seit ich mein Denken mehr in Richtung DÜRFEN, KÖNNEN und WOLLEN justiert habe, kommt vieles in meinem Leben weniger leistungsorientiert und zwanghaft daher. Ich habe weniger angestrengtes MUSS und dafür mehr selbstbestimmtes DÜRFEN etabliert. Ich werde nicht von außen zum KÄMPFEN und MÜSSEN gedrängt, sondern erlaube mir von Innen zu DÜRFEN und zu WOLLEN.

Ich WILL mich anders ernähren. Ich WILL mich täglich bewegen. Ich WILL achtsamer sein. Aber nicht, weil ich es MUSS oder SOLL, sondern weil ich es DARF.

Ich finde, das ist doch ein wunderbarer Ansatz, oder? Das nimmt dem Ganzen viel vom Zwang, vom Druck, vom Kampf  und gibt mir die Erlaubnis, auch mal alle Fünfe grade sein zu lassen und mir dennoch immer wieder Schokolade und zwei Gläser Rotwein zu erlauben.

Wie Susanne Sideropolous in ihrem Buch “Das Leben schwer nehmen ist einfach zu anstrengend” so schön formuliert: „(…) dieses kleine Wort [MÜSSEN] ist schon ein Gamechanger: Indem du in Zukunft “müssen” durch “dürfen” ersetzt, fühlt sich das Ziel schon entspannter an, oder? (…) Fakt ist, dich zwingt ja niemand.”  

Podcast-Empfehlung: Wenn du, liebe Betroffene oder lieber Betroffener, das Gefühl hast, dich im Zwangs-Hamsterrad zu drehen und dir schon leicht schwindelig ist vom vielen MÜSSEN und SOLLEN, dann hör unbedingt mal in den Podcast von Sabrina mit Elke Kückmann hinein. Die beiden überaus sympathischen Frauen (Elke hatte selbst Brustkrebs) unterhalten sich über die Wichtigkeit der Bewegung und Achtsamkeit für (Brust-) Krebspatientinnen. Dabei kommt die Plauderei überaus entspannt und ohne Kampfansagen oder „Du-MUSST-aber-Sätze“ daher. Ganz im Gegenteil:  Sie betonen mehrfach, dass Sport kein MUSS ist, dass er nicht stressen soll, dass es nicht „die richtige und die falsche Bewegung“ gibt, dass nicht jede Patientin und jeder Patient locker-flockig zur Joggerin oder zum Jogger mutieren kann, sondern angesichts von anstrengenden Therapien, schmerzhaften Operationen und Co. vielleicht gerade mal ein paar Übungen auf dem Sofa im Schlafanzug statt in der Jogginghose möglich sind.

Das Credo des Podcasts: Bewegung ist Vielfalt, Bewegung ist ein DÜRFEN, Bewegung soll nicht kasteien, durch Bewegung sollen Krebslerinnen und Krebsler Momente der Lebensfreude erleben. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ich eine Chemie durchlaufen habe, ist es doch ein wahres Privileg, dass ich mich, dass ich mich bewegen KANN und DARF.

Ich könnte das ja nicht…

In ihrem neusten Buch “Läuft schon” schreibt Nicole Staudinger in einem Kapitel mit derselben Überschrift wie dieser Absatz hier, dass sie schon längst reich wäre, wenn sie jedes Mal, wenn dieser Satzanfang fällt, einen Euro bekommen würde. Auch ich wäre definitiv Millionärin, das dann ich absolut bestätigen.

Auswahl gefällig?

„Also, ich könnte ja mit Glatze nicht mehr so fröhlich sein.“

„Also, ich könnte mich ja nicht selbst spritzen.“

„Also, ich könnte ja nicht täglich Sport machen.“

„Also, ich könnte ja nicht mit so wenig Schlaf auskommen!“

„Also, ich könnte das ja nicht, kein Fleisch mehr zu essen.“

„Also, ich könnte mich ja nicht ständig mit dem Krebsthema beschäftigen.“

Je nach Tagesform bringt einer dieser Sätze mich auf die Palme, lässt er mich die Wände hochgehen oder versetzt mir einen Stich. Ich fühle mich in meinem Leben beobachtet, hinterfragt oder auch gemaßregelt.

Wahrscheinlich nicken andere Betroffene an dieser Stelle zustimmend. Nicht-Betroffene reagieren wohl eher irritiert oder gar pikiert. Ihr Lieben: Ich bin mir sicher, dass jeder dieser Sätze eigentlich nett gemeint ist. Sei es als ehrliches Kompliment, als Ausdruck von Bewunderung oder nur als freundliche Floskel.

Wahrscheinlich wusste mein Gegenüber während meiner Krankheitsphase manchmal einfach nicht, was es sagen sollte, hatte aber das Gefühl, etwas sagen zu MÜSSEN. An dieser Stelle: Vielen Dank für die Anteilnahme eine*r jede/n von euch. Ich weiß es zu schätzen, auch wenn ihr das absolut nicht geMUSST hättet. Und – um ehrlich zu sein – in manchen Fällen wäre es besser gewesen, ihr hättet den Mund gehalten. Verzeiht.

Am liebsten hätte ich der einen oder dem anderen entgegengeschmettert: „Sei doch froh, dass du es nicht MUSST.“ Meint ihr ernsthaft, dass es mir Spaß gemacht hat, im Corona-Winter 2020/21 ohne Haare herumzulaufen? Und glaubt ihr nicht, dass ich gerne auf den Cortisionpush mitten in der Nacht verzichtet hätte oder jetzt auf die tamoxifenbedingten Wechseljahrschlafbeschwerden verzichten würde?

Und was soll ich mit dem „Fleischlos-Satz“ anfangen? Ich habe mich dazu entschieden, das so zu machen, weil ich es so WILL. Punkt.

Vielleicht ist es sogar so, dass mancheine*r einen „Ich-könnte-das-ja-nicht-Satz“ einfach als (unbewusste) Ausrede benutzt, um selbst etwas nicht tun zu MÜSSEN, auf das sie/er keine Lust oder keine Zeit hat (oder zu haben scheint). Denkt mal drüber nach, wenn ihr das nächste Mal eure Joggingschuhe von rechts nach links schiebt oder Hackfleisch anbrutzelt. Könntet ihr nicht doch eine Runde laufen gehen oder die Lasagne mit Tofu kochen?

Mir kam auch schon in den Sinn, dass man sich mit einem dieser “Ich-könnte-nicht”-Sätze  auch sofort Abstand zu der angesprochenen Sache nimmt. Indem man sagt, dass man sie nicht ausführen KÖNNTE, ist schon von vornherein klar, dass man sie nicht machen MÜSSTE. Und schwupp! hat man sich ganz einfach eine Sache vom Leib geschaffen, die man für sich persönlich ausschließt.

Je nach Verfassung führt eine solche Art der Sätze dazu, dass ich beginne, mich zu rechtfertigen, Dinge zu relativieren oder mein Tun zu erklären. Ich antworte/te etwa: „Ja weißt du, es ist nicht immer leicht, aber ich mache es eben.“ Oder „So schlimm ist es doch gar nicht.“ oder schlimmer noch „Du, ich kann das auch nicht so gut, aber …“

Das ärgert mich eigentlich. Denn das MUSS ich doch gar nicht. Deshalb unterlasse ich das mittlerweile immer öfter. Ich bleibe ganz oft einfach still. Oder ich entgegne ganz einfach: „Du KÖNNTEST das nicht? Das MUSST du ja auch nicht.“

Wisst ihr, wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann hätte ich auf so einiges zwischen Diagnose, Haarausfall, Dauernasenbluten, traumatisierten Kindern oder Geschmacksverlust verzichtet. Aber ja, die Wahl war nicht vorhanden. Tod oder Leben… Ihr versteht?!

Wenn ich etwas mehr Muse hatte oder habe, dann ging´s oder geht´s in den Dialog. Denn ich weiß tausendprozentig, dass mein Gegenüber, genau das auch geKONNT hätte, was ich getan habe, wenn er oder sie sich im Angesicht einer potenziell lebensverkürzenden Krankheit gesehen hätte.

Wenn du so etwas wie eine Chemo machen MÜSSTEST, dann KÖNNTEST du, dann WOLLTEST  du das sogar!

Die Gedanken sind frei: vom MÜSSEN zum KÖNNEN und WOLLEN

Ihr wisst, ich bin kein Fan von „Good vibes only“ im Sinne von „Du musst nur lange genug lächeln, dann bist du glücklich.“ So funktioniert eine Chemo leider nicht. Und auch so manches andere im Leben, ist damit nicht wegzupusten.

Sideinfo: In einem Blogtext habe ich mich ausführlich mit der „Toxischen Positivität“ auseinandergesetzt. Lies gern rein, wenn du mit diesem Text hier fertig bist.

Ergo: Du kannst deinen Krebs nicht mit Affirmationen heilen, deine Trauer über den Tod einer Person nicht wegatmen, aber du kannst dir geistige Zufriedenheit verschaffen. Aber ja, ich bin dennoch überzeugt davon, dass du mit der Kraft seiner Gedanken so einiges anrichten kannst.

Lasst uns doch heute mal gemeinsam ein Gedankenspiel machen und unsere Sichtweise wechseln. Ich selbst wurde hierzu inspiriert durch einen Artikel von Ina Rudolph mit dem provokativen – oder motivierenden? – Titel „3 Gründe warum Sie gar nichts müssen“. Es macht wirklich Spaß, sich mal der Frage zu widmen, ob wir alle wirklich so viel MÜSSEN wie wir immer meinen.

Bist du dabei? Ja? Schön, dann geh wie folgt vor:

  • Suche dir einen Gedanken, der mit „Ich muss….“ beginnt (z.B. „Ich muss um halb sechs aufstehen.“)
  • Und dann überlege nach 2-3 min erneut, ob du dir wirklich sicher bist,
    dass du das wirklich musst. (Vielleicht reicht es auch 10 Minuten später?
  • Nach zwei Minuten nochmal innehalten und überlegen, ob du es wirklich musst oder nur meinst es zu müssen. (Du könntest theoretisch liegenbleiben. Dein Chef wird dich nicht aus dem Bett holen. Deine Kinder werden nicht gleich verhungern, wenn du mal später aus den Federn kommst.)
  • Suche dir dann zwei bis drei Beispiele, die dir zeigen, dass du genau diese Sache NICHT tun musst, sondern sie doch aus eigenem Antrieb machst. (Du möchtest deinen Kindern Frühstück machen. /Du arbeitest gerne. /Du hast gern noch ein paar Minuten Zeit, bevor der Rest der Familie aufsteht,)

Wenn man das immer und immer wieder macht, dann kommt man wohl irgendwann zur Erkenntnis, dass eigentlich nichts in unserem Leben wirklich ein MUSS ist.

So hat mein Onkologe mich nicht zur Chemo gezwungen, ich habe mich selbst in den Stuhl gesetzt. Keiner hat mir die Spritze gewaltsam in die Hand gedrückt. Ich habe die Kanüle selbst gesetzt. Die Strahlentherapieplätze wären auch ohne mich belegt gewesen.

Und auch sonst im normalen Alltag versteckt sich hinter dem meisten, was ich glaube, tun zu MÜSSEN doch eigentlich ganz viel WOLLEN oder gar DÜRFEN. Ich muss meine Kinder nicht zu ihren Aktivitäten fahren, aber ich mache es, weil ich überzeugt davon bin, dass Hobbies wichtig sind. Ich muss keine Wurst-, Käse- und Rohkostplatten anrichten und Servietten auf die Teller legen, aber ich will es, weil mir Tupperdosen auf dem Tisch zu lieblos sind.

Irgendwie ist es alles eine Sache des Blickwinkels oder der Herangehenweise. Zwar bleiben die Dinge dennoch da, auch die unangenehmen verschwinden nicht. Aber so wird sogar die von Frau Rudolph und wohl von uns allen „heiß geliebte Steuererklärung“, zu etwas positiverem. Wir sagen alle, dass wir die machen MÜSSEN. Aber im Grunde MÜSSTEN wir doch selbst die nicht machen. Wir könnten uns auch schätzen lassen. Dann MÜSSTEN wir im Zweifelsfall mehr zahlen. Oder der Gerichtsvollzieher stünde irgendwann vor der Tür. Also machen wir sie doch lieber, abr nicht, weil wir müssen, sondern, weil wir es WOLLEN oder KÖNNEN oder gar dürfen. Wow, ein einfach herrliches Gefühl, oder?

Wir halten also fest: Indem wir das Verb „MÜSSEN“ durch ein anders ersetzen, wird das Ganze weniger passiv und zu einem aktiven, bewussten Akt. Auch eine Chemo, auch eine Wurzelbehandlung, auch das Putzen der Toilette… Und auch das Schreiben dieses Blogtextes. Ich MUSS das nicht! Aber ich möchte es. Schöner noch: Ich DARF es, weil wir in einem freien Land leben, in dem jede*r seine Meinung kundtun darf. Und es wird noch schöner: Keine*r von euch MUSS den Text lesen, aber ihr WOLLT es. Hach, das ist superduperwunderhypermegatoll. Ich danke euch!, dass ihr mich tun lasst, was ich machen WILL.

Das Tolle am Gedankenexperiment von Frau Rudolph ist, dass es nicht in toxischer Positivität, in „alles ist gut, weil ich es mir so denke“ endet. Nein! Wenn du es bis zum Schluss durchdenkst, dann MUSST du nicht immerzu glücklich sein. Aber du KANNST oder DARFST oder WILLST es. Schön, oder?

Der Kreis schließt sich

Erinnert ihr euch noch? Am Anfang dieses Textes stand ich mit meiner Heldinnentasse in der Küche. Und da ich nun endlich meinen Kaffee trinken möchte, hole ich mir jetzt eine andere Tasse aus dem Schrank. Und zwar die mit dem Motto „perfectly imperfect“. Die gefällt mir nicht nur von der Farbgebung her besser, nein sie spiegelt meine Ansichten und wohl mein Selbstbild besser wider.

Ich wollte nie kämpfen. Ich MUSSTE Dinge tun. Mittlerweile weiß ich, dass es ein Privileg ist, dass ich Dinge tun KANN. Und ich wertschätze es in konfettikanonenmäßiger Fröhlichkeit, dass ich Dinge tun DARF.

Liebe Leserin und lieber Leser, die/der du selbst betroffen bist: Lass dich von „Ich könnte ja nicht.“- oder „Du solltest aber“- und schon gar nicht von „Du musst..“- Sätzen davon abhalten, Dinge zu tun, die du für richtig hältst! Du entscheidest, schließlich bist du die perfekt-unperfekte Hauptperson in deinem schaurig-schönen Leben.

Musikalisch ziehe ich mich zurück

Liebe Leserin und lieber Leser, die/der du nicht selbst betroffen bist: Fühl dich von mir und meinem Text bitte nicht auf den Schlips getreten. Aber manchmal ist es gut, erstmal einen Schritt zurückzugehen und zu überlegen, ob du den Satz nicht lieber für dich behältst oder vielleicht einfach ein anderes Verb wählst? Denn das kann nicht nur den Sinn eines Satzes, sondern die Gefühlswelt eines Menschen verändern. Worte sind mächtig, Worte können anders verstanden werden als sie gedacht sind.

Revolverheld bringen das in einem Song schön melodisch auf den Punkt: „Nicht alles, was wir sagen müssen wir so meinen.“ Sätze, die „Könnte“, „Solltest“ oder „Musst“ enthalten, mögen noch so gut oder flapsig-ironisch gemeint sein, sie können bei deinem Gegenüber dabei ganz anders ankommen und ihn verletzten oder gar verärgern.

Ich plädiere keineswegs für Schweigen! Im Gegenteil: Say what, say what, say what! Sprecht, sprecht, sprecht! Aber mit Revolverheld erinnere ich uns alle daran: „Es gibt Worte die bleiben.“ Lasst uns dafür sorgen, dass es die richtigen Worte sind, die uns im Gedächtnis bleiben! Die unserer Seele schmeicheln. Die uns gut tun.

In diesem Sinne: Seid herzlich umärmelt und lieb gegrüßt. Ihr seid die besten Blogleser*innen, die man sich nur wünschen kann. Und ihr MUSSTET es heute erdulden, dass eine Deutschlehrerin heute mal etwas oberlehrerinnenhaft aktiv geworden ist und sich an klitzekleinen Wörtchen, besser gesagt an Modalverben, festgekrallt hat. Aber eigentlich MUSSTET ihr ja nicht, ihr WOLLTET vielmehr. Hihi…

Mach dich frei von „Ich muss“. Frag dich „Was will ich?"
- Sabrina Han, Fatiguecoach

Nachtrag:

Vorgestern veröffentlichte ich diesen Text hier. Ich war zufrieden mit mir, weil mir das Thema sehr am Herzen liegt. Ich bekam einiges positives Feedback, dass ich mit meinen Zeilen den richtigen Nerv getroffen hätte, dass mein Schreibstil gut sei, dass der Text passe. Einen Tag später wollte ich „nur kurz und noch schnell“ einen Link einfügen. Und erschrak! In meinem Text waren zig Fehler, Sätze fehlten, Absätze waren falsch. Da war mir irgendwie ein Fehler beim Speichern passiert. Himmelhilf!

Ich ärgerte mich maßlos und begann den Text – noch im verschwitzten Sportoutfit – sofort zu überarbeiten. Dann stellte ich die neue Version online. Ich erklärte die Sache in einer Instatramstory. Ich entschuldigte mich bei Sabrina, die ich im Text zitiere. Mir war das alles sehr unangenehm. Da schrieb ich über Worte, mehr noch! – ich schrieb davon, dass wir auf unsere Worte achten sollen und dann haute ich einen fehlerhaften Text in die Bloggerwelt hinaus.

Eigentlich war damit dann alles wieder gut. Aber… Ich hatte den ganzen restlichen Tag miese Laune. Ich setze mich bis zum Schlafengehen immer wieder an den Laptop, änderte hier und da und dort. Ich konnte nicht zur Ruhe kommen. Mir war das so peinlich.

Heute früh dann regnete es. Aber meine Laune war dennoch wieder besser. Ich musste über mich schmunzeln. Da war ich doch tatsächlich am Weltfrauentag in die Perfektionsspirale geraten! Man sagt ja, wir modernen Frauen wollen alles schön machen, alles schnell machen, alles richtig machen. Wir wollen immer den schönen Schein wahren, nach außen hin die Perfektion zelebrieren.

Als sich dann ein wunderschöner Regenbogen am Himmel spannte, war das ein absoluter Augenöffnermoment für mich. Im Missgeschick erkannte ich: Ich MUSS nicht alles richtig machen. Ich DARF Fehler machen. Ich KANN diese verbessern. Progression geht doch wahrlich über Perfektion!

Irgendwie fast unheimlich, dass es im verschusselten Blogtext ums selbstbestimmte Dürfen im Gegensatz zum kämpferischen Müssen ging, oder? Das war ein Wink des Schicksals und die Message nun tatsächlich und ganz tief bei mir angekommen.

Plötzlich war mir klar: Es war ok. Ich war ok. Denn wer bin ich denn? Eine Maschine? Nein, ein Mensch, dem Fehler unterlaufen. Und dafür muss ich mich nicht schämen. Fehler sind menschlich, wohl das menschlichste überhaupt.

Vielleicht macht es mich sogar sympathisch, dass mir das passiert ist. Wer will schon das perfekte Wesen?

Ich bin eindeutig für mehr Herz über Kopf! Für mehr Schwäche als Superheldentum. Lasst uns doch häufiger auf unser Herz höre und den Verstand beiseiteschieben. Seid ihr dabei? Lasst Liebe in die Welt. Und denkt dran: Nichts muss. Alles darf. Nichts soll. Alles kann.

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