Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

Imaginastase

Das Pflaster ist blutig. Es klebt seit der Biopsie am Vortrag auf dem Arm. Ich löse den Rand und ziehe es ab. Das tut nicht weh. Die Einstichstelle ist hellrot. Frisches Blut. Der Arzt sagte, dass bei der Nadelbiopsie sogenannte Impfmetastasen entstehen könnten. Der Stichkanal zwischen dem möglichen Tumor und der Haut könnte beim Herausziehen der Nadel mit Krebszellen kontaminiert werden.

Mir ist plötzlich, als sähe ich durch den Einstichpunkt in meinen Körper hinein, durch die einzelnen Muskelschichten bis zum Knochen, in ihn hinein bis zum Tumor, oder der fraglichen Neubildung, die auf den Bildern wie ein Rückfall aussieht. Mein Hals wird eng. Ich sehe Krebszellen aus der Wunde treten. Alles voller kleiner Tumoren, wie nach der Explosion einer Splitterbombe. Lauter Mikrometastasen. Ich kann nicht mehr atmen. Wenn ich die Wunde jetzt reinige, habe ich dann den Krebs auf meinen Fingern? Werde ich ihn dann mit dem Desinfektionsmittel los? Was ist, wenn nicht? Wenn ich mir nachher in die Augen fahre? Bekomme ich dann Augenkrebs?

Ich atme. Ich bremse mein Hirn. Ich realisiere, was gerade passiert ist. Dass der Panikmodus wieder wegkann. Dass meine Imagination mich in Millisekunden auf einen hässlichen Trip geschickt hat, ganz ohne Halluzinogene. Dass mich das viele bewusste und reflektierte Wahrnehmen nicht davor schützt, wenn meine Fantasie mir eine saftige Watschen reinhaut.

Am nächsten Tag wechsle ich wieder das Pflaster. Es ist nicht mehr blutig. Beim Abziehen erfasst mich wieder eine Panikattacke, schwächer als am ersten Tag. Die Wunde hat jetzt einen Schorfdeckel. Ich sage mir selbst, dass da keine Krebszellen sind, niemals waren. Weil das, was im Knochen entdeckt wurde, sicher kein neuer Tumor ist.

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