Annette fragt… Sabrina
Im Spital
Gerhard war mein erster Vorarlberger gewesen. Es war die Zeit, als man mit dem Zug nach Großbritannien fuhr, weil der Flug zu teuer war. Auf diese Weise hatte ich einst London erreicht, Bregenz war nicht so anziehend. Ich arbeitete bei einem Meinungsforschungsinstitut, das der sozialdemokratischen Partei nahestand. Es gab auch ein zweites, das wiederum für die konservative Volkspartei forschte. Die Leiter beider Institute waren tatsächlich Experten ihres Berufsfeldes, sie verstanden sich blendend, dienten bloß unterschiedlichen Ideologien. Im Österreich der 1970er Jahre war das Land gewissenhaft aufgeteilt in Rot und Schwarz. Es gab zwei Meinungsforschungsinstitute, zwei Autofahrervereinigungen, ja sogar zwei Schriftstellervereinigungen, die jeweils der einen oder der anderen Reichshälfte zugeordnet werden konnten.
Auch Gerhard arbeitete hier, der kleine Mann mit der großen Glatze. Er war etwa zehn Jahre älter als ich und ich bewunderte seine Bildung auf musikalischem und politischem Gebiet. Eigentlich war Gerhard Journalist, aber er hatte keine Aussicht auf eine Anstellung. Das war kein Wunder, er war ein kritischer und linker Geist, was im öffentlichen Leben Österreichs auf Arbeitslosigkeit hinauslief. Die Medienlandschaft ähnelte in ihrer Vielfalt eher dem kommunistischen Rumänien als einer westlichen Demokratie.
Gerhard träumte von einer demokratisch-linken Zeitung, die er, gemeinsam mit anderen, demnächst gründen würde. Od‘r? Er beendete viele Sätze mit diesem Wort. Anfangs glaubte ich, er erwartete eine Antwort, bis mir klar wurde, dass es sich beim Wort ‚od‘r‘ um so etwas Ähnliches wie ‚net‘, ‚nich wah‘ oder ‚vastehst, Oida‘ handelte. Ein Anhängsel ohne Bedeutung. Gerhard jedenfalls wurde mir zu einer Art Freund, auch als wir das Meinungsforschungsinstitut längst verlassen hatten, blieben wir verbunden.
Gerhard arbeitete mittlerweile als Erzieher im Voralpengebiet, ich unterrichtete widerspenstige Schülerinnen und Schüler. Jeder war auf seine Weise unglücklich, mir ging es bloß ökonomisch besser. Alle paar Monate tauchte Gerhard bei mir auf. Er hatte ein paar Tage Urlaub genommen und wanderte von Freund zu Freund. Bei jedem blieb er ein paar Tage, ausgestattet mit einer großen Tasche, in der sich Zeitungen und Bücher befanden und einem kleinen Koffer, in dem er seine Kleidungsstücke mitführte.
Anfangs freute ich mich. Gerhard war lustig und klug, erzählte von den neuesten Theater-Aufführungen, berichtete über die politische Lage entfernter Nationen. Mit der Zeit ermüdete er. Kaum aufgestanden, erzählte er mir schon beim Frühstück, wie die Welt anders sein könnte. Am Nachmittag, wenn ich vom Unterricht nach Hause kam, überfiel Gerhard mich mit weiteren Neuigkeiten. Am Abend fiel ich erschöpft in einen tiefen Schlaf. Nach wenigen Tagen, die mich allmählich mehr erschöpften als die Vormittage mit meinen Schülern, wechselte er den Gastgeber und verschwand für einige Zeit wieder aus meinem Leben.
Irgendwann bemerkte ich, dass er nicht mehr auftauchte. An seinem Arbeitsort, einem Lehrlingsheim am Semmering, wusste man nur von seiner Kündigung. Telefonnummer gab es keine. Über Umwege erfuhr ich von seiner Adresse. Er lebte nun offenbar in Bregenz. Ich schrieb ihm einen vorwurfsvollen Brief. Nach einigen Wochen kam der zurück. Absender verstorben, stand auf dem Umschlag.
Das hielt ich für einen Irrtum.
Auch mein Schriftstellerkollege Günther, ich hatte ihn durch Gerhard kennengelernt, bemühte sich, die Wahrheit herauszufinden. Er folgte Gerhards Spuren, fuhr von Salzburg nach Bregenz, nach Berlin, quer durch Deutschland.
„Er hat sich umgebracht“, erzählte ihm endlich ein Polizeibeamter in Hamburg. „Er hat den Kopf auf die Schienen gelegt. Sehr ordentlich. Die Rettungsmänner haben gesagt, die meisten Selbstmörder lägen ja stückchenweise verstreut und unkenntlich in der Gegend rum. Er aber war nahezu unversehrt, wenn man vom Kopf absah. Im Gebüsch fand man eine Aktentasche mit Zeitungen und Büchern und seinem Ausweis. Sonst nichts. Nein, auch keinen Abschiedsbrief.“
Was übrigens ganz normal ist. Die meisten Selbstmörder hinterlassen keinen Abschiedsbrief. Wozu auch? Sie haben von der Welt genug, was sollen sie ihr mitteilen? Niemand hatte sie je verstanden, warum sollte sich das nun ändern? Und was hätten sie davon?
Als Günther mir mitteilte, dass Gerhard tatsächlich tot war, betrank ich mich so heftig, dass ich bald alles wieder in einen Kübel erbrach. Der säuerliche Geruch erfüllte die Wohnung und half nicht weiter.