Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

Ich bin ausgemustert

Hallo zusammen,

„Menschen, die nichts erreicht haben im Leben oder gar unter die Räder gekommen sind, die in dieser Welt nichts zu sagen haben, sind in unserer Zeit nicht gefragt. Wir benutzen sie höchstens als Kontrastmittel, damit wir uns einreden können, wir seien doch besser als sie, hätten es im Leben zu etwas gebracht und stünden nicht ganz erfolglos da. Unsere Vorbilder sind die, die sich nicht unterkriegen lassen, die nicht unter die Räder gekommen sind und die in der Welt den Ton angeben.“ (Hans Schwarz: Christsein ist möglich, S. 7) Im Freundeskreis sucht man körperlich dynamisch fitte, robuste, schöne, erfolgreiche Menschen (Follower), am besten noch mit Geld, und nicht körperlich eingeschränkte, hilfsbedürftige, arbeitsunfähige Menschen, dafür gibt es auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis Pflegedienste und entsprechende soziale und karitative Einrichtungen.

Ich gehöre nicht mehr zu unseren klassischen Vorbildern der Leistungsgesellschaft. Ich bin seit kurzem ausgemustert! Mit dem Auslaufen des Krankengeldes am 31.03.2022, nach 78 Wochen Bezug, stand als Arbeitsloser die Beantragung der Nahtlosigkeit gem. § 145 Abs. 1 SGB III und die Beantragung der Erwerbsminderungsrente an. Die Bundesagentur für Arbeit und die Deutsche Rentenversicherung Nordbayern haben mich in einem komplizierten Antragsprozess mit unglaublich vielen Vordrucken, erforderlichen Dokumenten und Nachweisen kurzerhand ohne weitere Rückfragen (innerhalb von 5 Wochen nach Posteingang) für arbeitsunfähig erklärt, unbefristet, ohne Einschränkung zu 100%. Ich bin ausgesteuert im behördlichen Fachjargon und offiziell nun Rentner, mit 52 Jahren! Meine Erkrankung lässt für die Behörden keinen Zweifel aufkommen, nach internen Statistiken rechnen sie mit meinem baldigen Ableben als reiner Kostenträger.

Für den interessierten und betroffenen Leser nachfolgende relevante Vordrucke: R0100, R0210, R0215, R0810, R0820, R0990, G0100, G0110, G0115, S0051 für die Rentenversicherung (https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Online-Dienste/Formularsuche/formularsuche_node.html ) und den Gesundheitsbogen zur Begutachtung im Ärztlichen Dienst für die Bundesagentur für Arbeit (https://fragdenstaat.de/dokumente/9305-microsoft-word-dokument3/ ). Gesamtumfang aller Dokumente: > 100 Seiten. Hinweis: „Zur Feststellung der Leistungs- bzw. Erwerbsfähigkeit ist ein sozialmedizinisches Gutachten durch den Ärztlichen Dienst (ÄD) der Bundesagentur für Arbeit erforderlich.“ Denn die Regelung zur sog. „Nahtlosigkeit“ soll verhindern, dass ein Arbeitsloser nach Aussteuerung aus dem Krankengeld noch mehr als 6 Monate leistungsgemindert ist, wegen des gegliederten Sozialleistungssystems ohne Transferleistungen ist, also weder Arbeitslosengeld, noch Krankengeld,

noch Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erhält. Kommt die Anwendung der Nahtlosigkeitsregelung in Betracht (Ablehnungsquote > 80%), ist eine Sozialmedizinische Stellungnahme zu beauftragen. Der ÄD soll bei „potenziellen Nahtlosigkeitsfällen“, d.h. bei aus dem Krankengeldbezug ausgesteuerten Personen, nicht aber bei Fällen aus dem laufenden Leistungsbezug, eine Sozialmedizinische Stellungnahme innerhalb von 3 Wochen erstellen.

Nun bin ich erst Anfang Fünfzig und kann zwar dem Beruf nicht mehr nachgehen, fühle mich aber nach wie vor eigentlich der Gesamtsituation entsprechend vital, lebenslustig und in der Lage gebraucht zu werden. Rente, für viele ein Traum, für mich ein Schock mit erheblichen finanziellen und sozialen Auswirkungen. Bin ich von nun an nutzlos? Was kommt jetzt eigentlich noch? Warte ich nur noch auf den Tod? Wie verbringt man seinen unfreiwilligen „Vorruhestand“ als chronisch Kranker? Mit welchen Einschränkungen und Hindernissen werde ich konfrontiert? derlei Gedanken sind nicht nur real, verstörend, deprimierend, sie können das aktuelle Leben auch destabilisieren und den gehofften Seelenfrieden unterbinden (#sosiehtkrebsaus).

Sind wir ehrlich, die Arbeit bestimmt bei den meisten in Deutschland lebenden Menschen den täglichen Rhythmus, eines durchorganisierten Tagesverlaufs. Auf die Arbeit ist in allen Belangen verlass: Man fährt morgens hin, trifft dort Kollegen und Vorgesetzte, verbringt produktiv, zumeist aber unproduktiv, den halben oder fast den ganzen Tag dort und fährt abends wieder gestresst oder glückselig nach Hause. Meist fünf Tage die Woche. Sie bietet nicht nur Struktur, sie wird schnell zur geliebten und gehegten Gewohnheit. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und fühlt sich in gewohnten Gefilden sicher, trittfest. In unserer Gesellschaft bestimmt der Wert des Menschen seine Leistung oder sein Nutzen. So absorbiert der Beruf/ die Arbeit unsere körperliche und geistige Energie, treibt uns bis an die gesundheitlichen Grenzen und manchmal auch darüber (human resources, human capital). Die Arbeit wurde und ist zu einer verkaufenden Ware degradiert (schönes Beispiel: Werbespot https://www.youtube.com/watch?v=EYm8syuKlZs ). Gehasst und geliebt ist die Arbeit unser zentraler Lebensmittelpunkt. Wenn dieser plötzlich wegfällt, gerät die eigene Welt aus den Fugen.

Hilfreich erscheint mir die klare Unterscheidung zwischen Job und Lebensaufgabe: Zu wissen, dass mit der eigenen Einzigartigkeit eine Aufgabe korrespondiert, zu der meine persönlichen Charaktermerkmale und Fähigkeiten benötigt werden. Diese Lebensaufgabe folgt nicht den Gesetzen des Arbeitsmarktes. Sie ist beständiger und werthaltiger als der Job, der heute kommt und morgen geht. Sich dieser Lebensaufgabe zu widmen, bedeutet Erfüllung – unabhängig davon, ob es sich um eine klassische Erwerbstätigkeit handelt und wie viel Geld Sie erwirtschaften. Die Lebensaufgabe setzt das persönliche Wissen um eine existenzielle Verankerung, die Selbstachtung und Selbstwertgefühl frei. Eine greifbare reale Vorstellung von der eigenen Lebensaufgabe macht von Krisen und Erschütterungen unabhängig und verleiht persönliche geistige Reife, psychische Kraft und emotionale Gelassenheit. Als Vorruheständler habe ich meine Lebensaufgabe gefunden: anderen Menschen in vergleichbarer Situation Mut machen, Vorbild sein, meine Erfahrung und Wissen weitergeben, die Gesellschaft aufklären und Krebs entstigmatisieren. Dafür bin ich u.a. Blogger geworden.

Mit meinem Vorruhestand erwartet mich, den unfreiwilligen Rentner, nicht nur mehr „Freizeit“ zwischen all den Therapien, sondern auch dauerhaft bedeutend weniger Geld auf meinem Konto. Spätestens mit dem Antragsprozess sollten Sie sich darum einige Fragen stellen: Wie viel Rente bekomme ich? Wofür brauche ich künftig mehr Geld? Kann ich mir die Miete noch leisten? Wer frühzeitig feststellt, dass die Rechnung nicht aufgeht, kann noch gegensteuern und seine Ausgaben kürzen.

Auch die Partner sind gefordert, denn sie müssen viel Verständnis aufbringen. Sie müssen lernen, dass man dauerhaft über die Krankheitstage hinweg auf einmal den ganzen Tag zusammen ist.

„Wer sich äußerlich schleifen lässt, verkommt innerlich.“

unbekannt

Unabhängig seiner Position und Stellung steht jeder Mensch an seinem jetzigen Platz, weil eine Abfolge unabänderlicher Entscheidungen und Handlungen dazu geführt hat. Sich zu ärgern und Vorwürfe machen, weil man diese oder jene Chance im Leben nicht nutzte, führt zu keinem positiven Lebensgefühl. Im Gegenteil, dadurch setzt man nur seine eigene Vergangenheit herab und beeinträchtigt den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Die Vergangenheit ist Teil unserer facettenreiche Lebensgeschichte. Was wirklich zählt, ist aus dem Hier und Heute das Beste zu geben, denn nur darauf hat man wirklichen Einfluss.

An alle Krebsler: „never give up“!

Euer

Christian

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