Erleichterung vs. Belastung
Gut? Besser? Okay?
So wie auf dem Foto oben sah ich letztes Jahr aus. Mal mit Glatze, mal mit Beanie oder einem Tuch darüber. Heute trage ich eine Kurzhaarfrisur. Meine Blutwerte sind im Normbereich. Mein Alltag funktioniert. Die Kinder gedeihen gut. Die Ehe ist noch intakt. Frau Holl ist wieder zurück im Klassenzimmer und vor allem auch in der Turnhalle und im Schwimmbad. Ich habe Anfang des Jahres einen pädagogischen Ratgeber veröffentlicht, ein Manuskript befindet sich gerade im Feinschliff auf meinem Schreibtisch, Anfragen von Verlagen für neue Projekte liegen vor. Kurz gesagt: Das Leben läuft….
Also ist doch eigentlich ALLES WIEDER GUT?
Immer wieder höre ich: „Jetzt ist ja zum Glück alles vorbei.“ oder „Sicherlich bist du froh, dass jetzt alles rum ist.“ Besonders beliebt auch: „Nun kannst du alles abhaken.“ Ab und an kommt mir auch zu Ohren „Eigentlich brauchst du deinen Krebsblog ja jetzt nicht mehr.”
Das macht mich unruhig und traurig. Das enttäuscht mich. Das macht mich ein Stückweit auch wütend. Denn es ist NICHT ALLES WIEDER GUT.
Da ist noch ganz viel Krebs, auch wenn da kein Krebs mehr ist!
Ich habe einen hohen Preis bezahlt, der mein Lebenskonto belastet….
… Mit der Diagnose war ich von heute auf morgen raus aus dem Job.
… Stattdessen durchlief ich einen Untersuchungs-und Behandlungsmarathon.
… Meine Erkrankung war Schuld an einer radikalen Änderung unseres Familienlebens.
… Mein Immunsystem wurde einmal komplett gegen die Wand gefahren.
… Meine Seele bekam einen Knacks.
… Ich litt Zukunftsängste.
… Ich verlor meine Haare.
… Ich wurde abrupt in die Wechseljahre geschickt.
… Und zum ganzen Spaß packte ich noch eine Corona-Pandemie oben drauf.
All diese Erinnerungen und Bilder habe ich fest gespeichert und manchmal ballt sich das alles zu einem Knäuel zusammen, das mir im Magen liegt und auf meine Stimmung drückt. Dann schwappen meine Gefühle über und meiner Seele wird alles zu viel.
Denn es ist eben NICHT ALLES WIEDER GUT!
In meiner gesunden Welt ist noch ganz viel Krankheit übrig…
Zu meinem großen Schrecken bin ich mittlerweile Besitzerin einer Medikamentenbox, wie ich Sie bisher nur von meiner Oma kannte. Denn ich muss mindestens die nächsten 5-7 Jahre lang täglich meine Krebs-Tablette, die mich vor einem Rezidiv bewahren soll. Gegen deren Nebenwirkungen schlucke ich homoöopathische Helferlein. Zudem lege ich noch Selen und Vitamin D obendrauf, weil das zur Brustkrebsprophylaxe empfohlen wird.
Ich bin in der engmaschigen Nachsorge und sitze dreimonatlich in verschiedenen Arztpraxen. Das ist jedesmal mit Aufregung, mit Angst und mit hohem Blutdruck. Ja, wirklich. Ich dümple zeitlebens normalerweise im unteren Bereich herum, wenn mir die Manschette umgelegt wird. Nur einmal in meinem Leben hatte ich mit zu hohem Blutdruck zu tun: Das war, als ich am Ende meiner Schwangerschaft am HELPP-Syndrom litt und es um Leben und Tod ging. Ich überlebte und mein Teeniemädchen auch. Wenn ich jetzt bei meiner Gynäkologin bin, dann zeigt das Blutdruckmessgerät eindeutig Werte an, die definitiv auch in die Kategorie „Heftiges Herzklopfen“ fallen.
Meine Nächte sind oft kurz, denn ich schlafe schlecht, bin ständig wach und schwitze viel – ein Hoch auf die Wechseljahre, die ich weder bestellt, noch schon gewollt und dennoch frei Haus geliefert bekommen habe. Mein Körper zeigt Nachwirkungen der Akuttherapie:, Nebenwirkungen der Anti-Hormontherapie: Kribbeln in den Füßen, Schmerzen in den Händen, dicke Waden, geschwollene Finger…
In meinem Kopf befinden sich Bilder von Glatze, Chemobeuteln und nicht enden wollendem Nasenbluten. Die werden ab und zu, ganz ohne mein Zutun, einfach auf meiner Kopfkinoleinwand abgespielt.
Der Krebs hat Spuren auf meinem Körper hinterlassen: Ich habe Narben. An der rechten Brust. Unter der rechten Achse. Über der linken Brust.. Die sind zwar fein, die sind zwar kurz, aber sie sind dennoch da. Und immer wieder sprechen sie mit mir. Dann ziehen sie, dann jucken sie, dann fühlen sie sich hart an. Das wird mit der Zeit besser werden, ich weiß. Aber sie werden mein Leben lang da sein. Damit habe ich mich in einem anderen Blogtext schon mal ausführlich beschäftigt. Lies gern mal rein!
Wie meint Johannes Oerding in einem Song so treffend?
„Das alles tut weh. Und nichts ist okay.
Manchmal gibt es Risse, Stiche und Schnitte.
„Unsere Narben sind ‘n Leben lang zu sehen.
Doch irgendwann tut’s nicht mehr weh. Dann ist es wieder okay.“
Ich finde das trifft es: Es wird mit der Zeit sicherlich „okay“ werden. Aber was ist denn schon „okay“? Das ist für mich allerhöchstens die kleine Schwester von „GUT“.
Die Zeit danach zum Thema machen
Auch wenn sich das viele nicht vorstellen können und ich mittlerweile auch in meinem engsten Umfeld oft auf Unverständnis oder teilweise auch Genervtheit stoße: Ich kann das Vergangene nicht abhaken! Ich werde zeitlebens den Krebs mit mir herumschleppen, ob als tatsächliche Erkrankung, als Erinnerung oder als potentielle Möglichkeit. Er ist immer irgendwie da.
Und regelmäßig kommt die Angst zu Besuch, setzt sich zu mir aufs Sofa, legt sich zu mir ins Bett oder startet das Kopfkinoprogramm. „Was, wenn ich ein Rezidiv habe?“ „Was, wenn das Ziehen im Rücken eine Metastase ist?“
Ich muss lernen, damit klarzukommen. Ich muss lernen, die Angst kommen zu lassen, sie zu spüren, aber sie dann auch wieder wegzuschicken. Sicherlich wird so nicht ALLES WIEDER GUT, aber auf jeden Fall ein wenig BESSER. (In einem Podcast durfte ich mal über meinen Umgang mit Ängsten sprechen. Falls es dich interessiert, dann höre hier sehr, sehr gerne mal rein!)
Vielleicht geht es dir, liebe Leserin oder lieber Leser, genauso wie mir. Vielleicht bist du auch in deinem „Leben nach Krebs“ angekommen und GUT trifft deinen Zustand und dein Seelenleben nicht. Dann fühl dich verstanden, dann fühl dich virtuell gedrückt, dann fühl dich normal!
Deine Behandlung mag vorbei sein und du willst eigentlich nur dich und das Leben feiern und dann bemerkst du, dass dir an vielen Tagen gar nicht zum Feiern ist. Dann akzeptiere das! Dann lass es geschehen. Dann lass deine Gefühle zu.
Auch wenn Außenstehende, oftmals auch das nahe Umfeld, es nicht verstehen können: Uns geht es nicht 24/7 GUT. Wir sind nicht ständig voller Glücksgefühle, weil wir leben. Nein, an manchen Tagen geht es mir im Kopf schlechter als während meiner Akuttherapie.
Denn vieles wird mir jetzt erst klar, wird mir jetzt erst in seiner vollen Tragweite bewusst. Das muss ich durchdenken, das muss ich erspüren, das muss ich mir und meiner Seele zugestehen oder auch zumuten. Ich komme da nur raus, wenn ich hindurchgehe. Und es ist völlig in Ordnung, dann manchmal einfach nur zu sein.
Und, ganz wichtig: Ich, du, wir muss, musst, müssen da nicht alleine durch. Hol dir, holt euch ggf. auch psychotherapeutische Hilfe oder geht in eine Selbsthilfegruppe. Das alles ist gut, das alles ist wichtig, das alles tut gut, das alles ist richtig. Hier habe ich mir mal meine Gedanken über Psychotherapie und Selbsthilfe von der Seele geschrieben. Lest gerne mal rein:
Wählt eure Worte mit Bedacht
Es sind oft nur kurze Sätze, nur kleine Worte. Aber gerade die sind es, die uns Krebsbetroffene treffen können. Deshalb appeliere ich an dieser Stelle an alle, die uns ihr „ALLES IST GUT“ um die Ohren knallen. Auch wenn ihr das vielleicht nicht so meint. Auch wenn ihr das eigentlich sagt, um uns zu helfen, um uns Mut zu machen, vielleicht sogar, weil ihr euch wünscht, dass es so ist.
Ich sage mit Revolverheld: „Nicht alles was wir sagen müssen wir so meinen. [Aber] Es gibt Worte die bleiben, Worte die bleiben oh!“
Ihr Lieben, ich kann das Vergangene nicht abhaken. Ich kann nur lernen, damit klarzukommen. Sicherlich wird so nicht ALLES WIEDER GUT, aber auf jeden Fall ein wenig BESSER.
In diesem Sinne wünsche ich mir, wünsche ich dir, wünsche ich uns allen, dass wir es schaffen, mit unserem schweren Schicksalsrucksack klarzukommen, ihn phasenweise abzusetzen und unbeschwerte Tage genießen können und ihn mit der Zeit nur noch als leichtes Gepäck zu spüren, das zwar da ist, aber uns nicht permanent in die Knie zwingt.
Und bis dahin werde ich weiter über mich und meinen Krebs sprechen und schreiben, egal, was andere davon halten. Ich freue mich, wenn ihr mich weiterhin auf meinem Blog hier begleitet! Ich hab noch viel zu sagen :). Und deshalb bin ich hier bei den Kurvenkratzern absolut richtig: #esistegalwieduüberkrebssprichsthauptsachedutustes