Erleichterung vs. Belastung
(B)LOGBUCHEINTRAG VOM 05.04.2020: Der Moment, der mich hilflos zurücklässt.
Der Moment, der mich zutiefst hilflos und verunsichert zurücklässt: Es ist um und bei 3:20 Uhr. Bis 01:40 Uhr liege ich wach, da mein Zimmergenosse ununterbrochen gequälte Geräusche von sich gibt. Stöhnen, rülpsen, schnaufen. Am Nachmittag war ein Internist da und hat mit ihm über eine Nierenpunktion gesprochen, die dann auch direkt durchgeführt wurde. Zu groß sei das Risiko, dass der Patient sonst seinen zu schlechten Nierenwerten erliegen könne. Während die OP stattfindet, bin ich ein paar kleinere Besorgungen machen. Als ich zurück komme, ist auch die OP bereits beendet und mein Zimmergenosse wieder auf dem Zimmer. Ich habe das Gefühl, die OP hätte ihm geholfen. Er wirkt etwas wacher, schläft nicht mehr nahezu 22 Stunden am Tag. Er spricht mich sogar einmal an und bittet mich, ihm sein Handy zu geben, dass vor der OP von jemandem ungünstig abgelegt wurde. Ich gebe ihm das Telefon und frage ihn, ob es ihm soweit gut gehe. Er sagt: „Ja.“.
Gegen 22:30 Uhr schalte ich meinen Film und den Laptop aus und versuche zu schlafen. Es fällt mir schwer, denn mein Zimmergenosse schnauft trotz besseren Gefühls noch sehr. Ich stecke mir meine Kopfhörer ins Ohr und höre meine „Fighting“-Playlist. Um 2:32 Uhr schaue ich nochmal auf die Uhr, stelle meinen Sleeptimer der Playlist noch einmal eine Stunde weiter. Um 3:20 Uhr werde ich von der Nachtschwester geweckt. Ich solle bitte einmal das Zimmer verlassen. Ich folge der Aufforderung. Als ich mich schlaftrunken und taumelnd auf den Weg zum Flur mache, bemerke ich: Es ist mucksmäuschenstill in unserem Zimmer. Ich ahne schreckliches als ich mich im Wartezimmer niederlasse. Mehrtöniges Piepen auf dem Flur setzt ein, die Schwester telefoniert angespannt, läuft mit einem Notfallkoffer über den Flur. Einige Minuten später kommt ein Bereitschaftsarzt in aller Seelenruhe auf die Station. Ich bin mir unsicher, welcher Eindruck bei mir überwiegt: finde ich es eher makaber oder befremdlich? Im Fernsehen kommen die Ärzte immer angelaufen und sind eher hektisch. Um 3:40 Uhr ist der Spuk vorbei. Die Nachtschwester sagt, ich könne heute Nacht in Zimmer 32 schlafen. Das ist der Raum in dem die Eingangsuntersuchungen und Blutabnahmen durchgeführt werden und in dem ich immer zu Beginn eines jeden Zyklusses die Portnadel gesetzt bekomme. Auf meine Frage was los sei, bekomme ich nüchtern und in gefasstem Ton mitgeteilt: „Er ist tot.“.
Da ist er: Der Moment, der mich zutiefst hilflos und verunsichert zurücklässt. Der mich erneut erkennen lässt, wie wertvoll das Leben ist. Der mich aber auch in Gedanken und Unsicherheit gefangen hält: „Ist es meine Schuld? Hätte das verhindert werden können, wenn ich keine Kopfhörer im Ohr gehabt hätte?“. Auf der anderen Seite habe ich trotz Kopfhörer die Geräusche meines Mitpatienten gehört, als ich noch wach war. Um und bei 2:20 Uhr hat er noch ein Schmerzmittel bekommen, danach wurde er ruhiger und ich muss dann auch kurze Zeit später weggedöst sein. Ich habe ja nicht einmal mitbekommen, dass das Licht in unserem Zimmer eingeschaltet wurde. Es gibt mir etwas Trost, dass er scheinbar während seiner letzten Momente nicht gekämpft und gelitten hat. Er ist friedlich neben mir eingeschlafen. In einem Abstand von 2 Metern.
Mein Übergangszimmer 32 hat keine Toilette. Ich benutze das WC auf dem Flur. Ich höre die Nachtschwester und eine Kollegin lachen und bewundere die Professionalität mit der Pflegepersonal Anfang/Mitte 20 mit diesen Verlusten umgeht. Mich treibt es anscheinend mehr um. Mit Mitte 30. Vielleicht liegt es aber auch genau daran. Bei mir ist der „Ernst des Lebens“ einfach schon größer und älter. „The Show must go on“ scheint die Devise im Klinikalltag zu sein. Ein Song von Queen, der sich auch in meiner Playlist findet. Zum Todeszeitpunkt meines Zimmergenossen muss „Neuanfang“ von Clueso gelaufen sein.
Die Nachtschwester wünscht mir: „Schlaf gut!“. Da ist sie wieder, die Professionalität und die Distanz zu Einzelschicksalen. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch einmal schlafen werde heute Nacht. So viel geht mir durch den Kopf. Wie surreal es ist, dass der Tod bereits neben mir im Zimmer stand. Hat er mich gesehen? Wie wenig Hektik in solchen, für mich, Ausnahmesituationen unter dem Personal entsteht. Wie professionell sie sowas abhaken. Wie schnell man zum „Neuanfang“ übergeht. Ich werde jetzt versuchen, doch noch ein wenig zu schlafen. Mittlerweile ist es 4:34 Uhr. Aber eins steht für mich fest: auch für mich wird diese Nacht mit all ihren schrecklichen Erlebnissen einen Neuanfang einläuten. Einen in ein bewussteres und achtsameres Leben. Denn keiner weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.
Ruhe in Frieden, K. J..