Erleichterung vs. Belastung
Bin ich gut genug?
Ist dieser Artikel gelungen oder sollte ich ihn nochmal überarbeiten? Reicht es, wenn ich sauge oder sollte ich vorm Besuch der Schwiegereltern doch noch den Boden wischen? Sehe ich mit diesem Shirt gut aus oder hätte ich lieber das andere nehmen sollen? Habe ich heute guten Unterricht gemacht oder war die Aufgabe für manche Kinder doch zu schwer? Sollte ich zusätzlich zu den Nudeln nicht noch Reis kochen, damit es auch allen schmeckt? …
Vor meiner Krebserkrankung befand ich mich privat, beruflich und eigentlich ständig in einem Strudel aus Zweifeln. Auch wenn man das jetzt nicht mehr glauben mag, denn als Dreifachmama, Langzeitpartnerin, Krebsbloggerin, Leiterin einer Selbsthilfegruppe, Autorin mit mehreren Buchveröffentlichtungen und Grundschullehrerin bin ich in vielen Bereichen aktiv, tue meine Meinung kund und sage, was ich will und auch nicht.
Aber bis ich zu dieser Person mit “Ich-mach-mein-Ding-Attitüde” geworden bin, gingen viele Jahre – eigentlich mein halbes Leben – ins Land.
So blieb ich als Jugendliche auf Partys lieber durstig als mir eine Cola zu holen. Blieb in der Disco sitzen, weil mir meine Dancemoves zu ungelenk waren. Wählte nicht den Deutsch-LK, weil ich meine Texte zu schlecht fand. Welche Ironie des Lebens, wenn ich mir jetzt meinen Nebenberuf anschaue?
Aber genauso war es damals. Außerhalb meines heimischen Umfeldes war Annette schüchtern. Annette war leise. Annette versteckte sich hinter andern.
Auch als junge Erwachsene war ich wenig selbstbewusst. Obwohl ich mich zweimal tapfer als AuPair in Frankreich durchschlug, durch Studium und Referendariat inklusive Alleinewohnen und Fernbeziehung boxte und als Grundschullehrerin täglich auf einer Mini-Bühne stand, begleitete mich die Frage “Bin ich gut genug?”
Selbst dann noch, als ich Bücher veröffentlicht, drei Kinder bekommen, ein Haus gebaut und die ein oder andere Lebensprüfung bestanden hatte, war mein innerer Kritiker sehr laut und ich überlegte immer und immer wieder “Was denen wohl die anderen, wenn ich dies und das und jenes mache?”
Also tat ich weiterhin dies nicht. Sagte das nicht. War eine Angsthäsin.
Nicht zuletzt stellte ich meine Leistung immer und immer wieder auf den Prüfstand. Hatte ich etwas erledigt, fragte ich mich, ob es tatsächlich ausreichend war. Ich hinterfragte einmal getroffene Entscheidungen wieder und wieder, ich grübelte im Nachhinein über geführte Gespräche nach, überarbeitete Texte wieder und wieder. Kurzum: Ich haderte permanent mit mir, war mir selbst nie genug und dachte, dass aus der Sicht anderer sowieso hier und da und dort noch einiges zu verbessern wäre. Immer saß mir da ein Kritiker im Nacken und oftmals zusätzlich noch eine Kritikerin auf meiner Schulter. Das konnte nicht gut gehen…
Dann kam der Krebs
Mittlerweile sehe ich mich, mein Können, mein Sein glücklicherweise mit anderen Augen:
Ich glaube an mich und was ich tue und bin überzeugt davon, dass es genauso gut ist. Ich stehe dazu, dass ich Entscheidungen recht oft aus dem Bauch heraus treffe und sie auch später nicht mehr anzweifle. Ich kann es doch meist sowieso nicht mehr ändern, also warum Lebenszeit mit Nachdenken vergeuden?
Katalysator für diese Änderung meiner Denk- und Sichtweise war sicherlich meine Krebserkrankung. Es wurde bedrohlich. Die beiden Fragen „Werde ich sterben?” und “Wie lange hab ich noch?” rotierten durch meinen Kopf.
Ich wollte leben. Für meine Goldschätze. Den Göttergatten. Und für mich. Also hieß es: Die Herausforderungen annehmen und einfach machen.
Und dabei wurde mir klar: Ich hab keine Zeit dafür, Dinge nicht zu sagen oder zu tun, weil andere das vielleicht komisch finden oder ich es nicht tausendprozentig richtig machen würde. Außerdem erkannte ich, dass ich doch eigentlich so viel mehr kann als ich je zu denken gewagt hatte.
Ich wehre mich an dieser Stelle laut und entschieden dagegen zu behaupten, dass ich dafür den Krebs gebraucht hätte. Anscheinend habe ich es aber vorher nicht von selbst kapiert, dass da so manches nicht ganz rund läuft in meinen Gehirnwindungen. Dadurch, dass mich diese Herausforderung einmal komplett aus der Bahn geworfen hat, scheinen sich meine Synapsen auf “optimal” gestellt zu haben und ich fühle mich gut. Ich halte es mit Anne Nieland (deren Buch “Der Gewinn” ich hier mal rezensiert habe):
„Ich habe MIT dem Krebs gelernt, NICHT dank ihm.”
Und so wurden mit dem Krebs und dem ganzen Chemo-Bestrahlungs-Narben-Sorgen-Klimbamborium meine Angsthäsinnenohren kürzer und ich konnte der Angst irgendwann tatsächlich entgegen schmettern:„Du kannst mich mal.”
Damals stolperte ich über ein Buch. Es hieß „Das Streben nach Leben” und war von einer Frau geschrieben, die sich “Die Mutlöwin” nannte. Ich las es in einem Rutsch durch. Schickte der Autorin eine Sprachnachricht. Denn beim Lesen und im Austausch, der sich mit der Zeit zwischen uns entwickelte, ging mir ein Licht auf und irgendwann blitzte und funkelte ein wahres Feuerwerk, denn ich sah:
Da ist so verdammt viel, auf das ich stolz sein kann. So verdammt viel, was gut ist in meinem Leben. So verdammt viel, was sich auch jetzt noch drehen lässt. Schließlich ist man doch nie zu alt für Veränderungen, oder gibt es etwa ein Verfallsdatum für erste Male?
Diese Erkenntnis lies mir die Krallen einer Mutlöwin wachsen. Sie ließ mich zu meinen Falten und Macken stehen. Mich häufiger auf meinen Bauch statt auf den Verstand hören. Sie erlaubte mir, Stopp zu sagen und mich abzugrenzen.
Ich gehe seitdem mit weitaus mehr Mut, Zufriedenheit und Freude durchs Leben, auch wenn durchaus auch traurig-schwarze Tage habe.
Zwei Reminder am Arm
Aber ab und an blitzte das alte Muster doch wieder auf: „Bin ich heute wirklich schön?” „Ist das Essen wirklich gut?” „Soll ich den Blogtext nochmal löschen?” Und auch die Angst klopft in einem Leben nach Krebs mit Nachsorgeterminen und Hiobsbotschaften von außen immer und immer wieder bei mir an. Bin ja schließlich ein ganz normaler Mensch und keine Heilige!
Um mich davor zu schützen, dann ganz schnell wieder ins Wasser des Selbstzweifelstrudels zu geraten, nutzte ich lange Zeit die Unterstützung von zwei Armbändern, die im Alltag immer wieder in mein Sichtfeld gerieten und mir als Reminder meine neuen Glaubenssätze dienen.
Das eine bekam ich von Shila Driesch , der Ur-Mutlöwin und Autorin des wundervollen Buches, das ich oben erwähnte, und das andere stammt von Bettina Greschner, die mir der Instagram-Algorithmus irgendwann zuspielte und deren Buch und Podcast mir ebenfalls viel Erhellendes mit auf meinen Nach-Krebs-Weg gaben. (@bettina_greschner_coaching ). Von ihnen bekam ich jeweils ein Armband.
Die Aufschrift des schwarz-rote erklärt mir: „Du bist eine Mutlöwin und kannst alles schaffen.” Das pinke sagt mir immer wieder „Du bist wertvoll“.
In meinem Leben 1.0 hätte ich solche Dinge als Hokuspokus oder Firlefanz abgetan. Jetzt sind sie für mich lebenswichtige Helferlein, die mir Halt, Kraft und Mut geben. Ich spüre ihre Unterstützung in ungewohnten Situationen, bei Arztterminen oder auch in schwierigen Gesprächen.
Diese beiden Bänder am Arm halfen mir zu lernen, zu meinen Ecken, Kanten, Sonderbarkeiten und den leichten Wurstfingern zu stehen. Sie helfen mir, mich selbst zu lieben und das auch laut zu sagen.
Ja, sie wurden so wichtig für mich, dass ich regelrecht in Panik und Unruhe verfiel, als sie kaputt gingen. Glücklicherweise halfen mir sowohl Shila als auch Bettina mit gummiartigem Nachschub aus. Und so konnte ich meinen mutigen Weg stetig weitergehen und begann die Message
Reminder-Unterstützung für meine Goldschätze
Ich kann weder dem Teeniemädchen die “Leiden der Pubertät”, noch dem dem Mittelstürmer die “Qualen des Wechsels auf die weiterführende Schule” und auch dem Goldkind die „Querelen des Trotzalters” nicht ersparen. Aber ich kann sie dabei unterstützen, sich selbst in ihrer ganze eigenen Wunderbarkeit anzunehmen. Deshalb habe ich jeden von ihnen mit einem Armband ausgestattet, das sie auf ewig daran erinnern soll, wie wichtig sie mir sind. Jedes hat eine eigene Message.
So wird das Teeniemädchen von seinem Armband daran erinnert, dass es geliebt wird, auch wenn die Eltern mittlerweile doch ziemlich oft nerven und einfach nur doof sind. Der Mittelstürmer hat sich im Herbst aufgemacht ins Gymnasium und brauchte deshalb etwas Mut ums Handgelenk, um sich im neuen Schulhaus mit den vielen neuen Lehrkräften, der Busfahrt und einem neuen Klassengefüge zurechtzufinden. Und das Goldkind soll wissen, dass das laute Schreien und oftmals für Erwachsene unverständliche Trotzen mein Mutterherz nie davon abbringen wird, es als wertvolles Gut auf ewig zu lieben.
Es erfüllt mich mit Freude und Stolz, dass diese Armbänder – anders als manch anderes Geschenk von mir, dass im Schrank vergessen oder im Regal geparkt und nie mehr benutzt wird – von meinen Goldschätzen in Ehren gehalten werden. Ja, diese Armbänder tragen alle Drei mit Stolz und immer. Sie haben deren Bedeutung für mich und für sich selbst tatsächlich erkannt. Das ist wunderwunderschön und erfüllt mich mit Stolz und Freude. Danke, dass es euch gibt, Teeniemädchen, Mittelstürmer und Goldkind.
Und weißt du was, liebe Leserin und lieber Leser? Mittlerweile gehe ich sogar so weit, dass ich meine Schülerinnen und Schüler mit dem Vibe der Mutlöwin und Greschnerwelt infiziere. Schon mehr als eine Postkarte mit Löwenkopf und pinken Machen-Schriftzug wanderte in einen Schulranzen. Mögen die Mädels und Jungs erst gar nicht so tief im Selbstzweifelstrudel landen wie ich.
Ein Jahr später, ein paar Gedanken weiter
Seitdem ich diesen Text geschrieben habe, ist einige Zeit vergangen. Ich lebe weiterhin ein recht alltägliches Leben. Aber es ist wohl einfach so, dass ich den Alltag und die Routine mag. Weltreisen im Camper, spontane Partyabende oder Fallschirmsprünge brauche ich nicht zum Glücklichsein.
Aber in mir drin ist definitiv einiges passiert. Meine innere Stimme ist eine andere geworden. Sie ist weicher. Sie ist wohlwollender. Sie ist aber auch forscher. Und klarer.
Sie feiert, was ich kann und was ich habe. Sie lässt mich – ganz in Udo Lindenberg´scher Attitüde – mein Ding machen, egal, was die anderen sagen (Hör doch gleich mal in den Song rein und tanz ´ne Runde)
Doch ich bin auch anderthalb Jahre nach dem ersten Onlinestellen dieser Zeilen noch immer nicht heilig und übermenschartig geworden (Gott sei Dank!). Ich kenne weiterhin den Besuch von Angst oder Zweifel.
Gerade erst durchlebte ich einige Wochen voller Kopfkino und “Was wäre-wenn-Gedanken”, weil so einiges an blöden Nachrichten im nahen und entfernteren Umfeld auf mich einprasselte und ich die Ohren nicht schnell genug verschließen konnte und mich triggern ließ.
Seit zwei Wochen habe ich ein permanentes Helferlein, das meine beiden Armbänder ersetzt. Und so kann ich in angstvollen Momenten nun einfach meinen Kopf senken. Nicht um mich zu grämen, nein, um auf das Tattoo zu blicken, das schon längst überfällig war.
Auf das Tattoo, das dem Tätowieren so einiges abverlangte, weil es so filigran war (O-Ton „Das war jetzt anstrengender als der komplette Rücken, den ich gestern tätowiert habe.”). Auf das Tattoo, das eine riesengroße Bedeutung für mein Leben 2.0 hat. Auf das Tattoo, dass mich an den Mut erinnert, der in mir schlummert. Auf meine ganz persönliche wunderschöne Mutlöwin.
Danke, lieber Fishy für deine tolle Arbeit! Das Stechen an dieser Körperstelle kam wahrlich einer Mutprobe gleich.
Liebe Leserin und lieber Leser, stehst auch du immer wieder am Abgrund und blickst hinab auf deinen Strudel an Selbstzweifeln? Läufst du sogar ab und an Gefahr, hineinzustürzen und dich davon wegspülen zu lassen?
Dann halte kurz inne und besinn dich darauf, was du schon alles geschafft hast. Heute, an diesem Tag. In der letzten Woche. Im letzten Monat. Im letzten Jahr. In deinem gesamten Leben. Beglückwünsche dich zu all deinen Taten!
Geh weiter deinen Weg. Sei mutig. Ich bin es schon. Ich stelle mein Licht nicht mehr unter den Scheffel, sondern bewerbe meine Bücher nun in meinen Instastories. Lobe mich am Abend für den Wäscheberg, den ich zusammengelegt und verräumt habe oder traue mich auf dem Spielplatz, die Rutsche hinunterzurutschen, wenn mir danach ist, auch wenn ich schon über 12 bin und auf jeden Fall rocke ich mittlerweile jedes Livekonzert, ob meine Moves gefallen oder nicht. Mir echt es Freude zu tanzen. Punkt.
Und …. Tausend Dank an dieser öffentlichen Stelle an meinen Göttergatten, der die alte Annette liebte und auch mit der neuen Annette durchs Leben geht. Wer hätte damals, als wir zusammen beim Babysitten im Sandkasten saßen, dass wir neun Tattoos später noch immer zusammen das Leben rocken werden! Danke, danke, danke. Ich liebe dich.
Du willst noch mehr übers Mutigen lernen?
Sowohl Shila als auch Bettina haben mir für “Annette fragt” so einiges über sich erzählt. Lies gerne die Interviews mit diesen zwei wundervollen Frauen durch und stärke deinen eigenen Mut.
Annette fragt… Shila Driesch
Annette fragt…. Bettina Greschner
Und wenn du dann noch einen letzten Ruck brauchst, um Mut zu zeigen, dann zieh dir das Lied “Ich bin ich” von Glasperlenspiel rein.