Unter dem Motto „talk about cancer“ beschäftigen wir uns mit den vielen Facetten einer Krebserkrankung.hello@kurvenkratzer.at

Arno Luik: Rauhnächte

Bisher stellte ich von mir selbst ausgesuchte Bücher vor, die ich gelesen und für gut befunden hatte. Zur Rezension des Buches “Rauhnächte” hingegen kam ich wie die Mutter zum Kind oder eher wie eine Krebsbloggerin, die über die Googlesuche gefunden wird. „Bei der Recherche sind wir auf Ihren Blog gestoßen. Möchten Sie diese Neuerscheinung vorstellen?“ 

Zunächst war ich etwas skeptisch. Ich soll ein Buch von Arno Luik rezensieren? Einem preisgekrönten Bestseller-Autor, der jahrelang für den Stern, Geo, den Berliner Tagesspiegel schrieb, Chefredakteur der taz und Kolumnist beim Hamburger Abendblatt war. Der für seine Interviews als „Kulturjournalist des Jahres 2008“ und für seine Enthüllungen in Sachen Stuttgart 21 den „Leuchtturm für publizistische Leistungen“ erhielt.

Waren diese schreiberischen Fußstapfen nicht doch ein wenig zu groß für mich kleines Bloggerinnenlichtlein?

Als ich dann aber begann das Buch zu lesen, kam ich zu einem anderen Entschluss: Genau wie ich hatte Herr Luik Krebs. Genau wie ich für interviewte er Menschen, die etwas Schicksalhaftes erlebten. Genau wie das Bloggen für mich war für ihn das Tagebuchschreiben während seiner Erkrankung Selbst-Hilfe, Heilung und Kontakt zur Außenwelt. Genau wie ich kommt er gebürtig aus Schwaben… Und dass er während der Chemotherapie einen uralten Hometrainer reaktiviert, wie ich es auch getan habe, muss doch ein Wink des Schicksals sein, oder?

Nicht zuletzt bin ich Kurvenkratzer-Bloggerin und wie heißt unser Motto? „Egal wie du über Krebs sprichst, Hauptsache du tust es.“ Und genau das tut Herr Luik: Er spricht über seine Darmkrebserkrankung und zwar in außerordentlich ehrlicher Form.

In diesem Sinne: Go for Rezension! Go für Annettes Krebsbestsellerliste!

Ich empfehle das Buch für alle,

die mit einer schonungslos offenen, mitunter schmerzhaften Darstellung einer Krebserkrankung umgehen können. Sie müssen bereit sein, sich auf eine Auseinandersetzung mit Zukunfts- und Todesängsten einzulassen. Und das in zeilenweise knallharten Worten. Arno Luik wehrt sich zwar gegen den Begriff des „Kämpfens“ in Bezug auf eine Krebsdiagnose. Dennoch spielt der (Ukraine-)Krieg eine große Rolle in seinem Buch und er spricht oft nüchtern und klar von einem „Bürgerkrieg (…)”  oder auch einer “Drecksau in [seinem] Körper.

Aber: Sein Text ist nicht kriegerisch-kalt. Vielmehr einfach authentisch und nie beschönigend. Selbst Betroffene werden sich in vielen Gedanken und Episoden absolut wiederfinden und die absolut ehrliche Darstellung und die Auswirkungen dieser Diagnose auf die Psyche begrüßen.

Die Leser*innen müssen mit einem Wechsel von stakkatohaften Gedankenblitzen an einem Tag und eloquent ausgeführten Ansichten zu den Nordstream-Gaspipelines, zur USA, zu den Grünen und unserer Bundeskanzlerin oder auch dem „One-Love-Stofffetzen” bei der Fußball-WM in Katar am darauffolgenden Tag klarkommen. Wer sich darauf einlässt, wird auf krebsiger wie politischer und kultureller Seite viel aus Arno Luiks Buch herausziehen. Mir jedenfalls ging es so!

Kurz und knapp: Um was geht´s?

Das Buch “Rauhnächte“ ist einerseits der Bericht eines Darmkrebserkrankten. Es beginnt mit einem Tagebuchaufschrieb Arno Luiks vom 19. September 2022. An diesem Tag wartet er auf die Stagingergebnisse nach seiner ganz frischen Darmkrebsdiagnose wartet. Es endet am 1. Januar 2023, als er noch mitten in seiner Chemotherapie steckt. Der Autor befindet sich beim Schreiben im Wechsel in Hamburg und in Königsbronn, seinem Geburtsort im Schwäbischen.

Auf den 187 Seiten berichtet Herr Luik von seinen Tageserlebnissen, die mal in zwei Sätzen abgehandelt werden, mal in einen sehr ausführlich münden. Dazwischen finden sich Kindheitserinnerungen und Gedanken zur politischen Lage. Es enthält Auszüge aus Emails und Briefen. Außerdem mehrere (Ausschnitte aus) Artikel(n) Luiks sowie den Abdruck einer taz-Reportage zu Georg Elser, der einen Anschlag auf Hitler verübte und ein entfernter Verwandter von Luiks Mutter war.

Zusatz-Gimmicks:

Das Buch enthält Auszüge oder Fotos aus/von E-Mails oder Briefen von Freund*innen des Autors, darunter Prominente wie der Starkoch Vincent Klink, der seine Frau an Krebs verlor oder auch eine Korrespondenz mit Sahra Wagenknecht. Diese werden teilweise

An mehreren Stellen finden sich außerdem Auszüge aus Interviews, die Arno Luik z.B. mit Boris Becker oder Angelika Schrobsdorff, führte.

Ich mag das Buch, weil… 

es zeigt, dass eine Krebserkrankung alle Menschen, egal welchen Alters, welcher Bildungsschicht oder welchen Geschlechts, mit denselben Gedanken konfrontiert: „Ungewissheit vor der Zukunft, die Leichtigkeit dahin, die Unbeschwertheit weg.” Herr Luik fragt sich, „wie viele Zeit [ihm] noch bleibt.” Er spricht vom Gefühl der Angst, das jede/r Betroffene kennt. Und weder die Flasche Rotwein oder gar Champagner, die man sich angesichts eines guten Befunds gönnt, noch das weinende Zusammenbrechen, wenn die Erkenntnis, schwerkrank zu sein, einen urplötzlich überkommt noch der Ärger über die vielen ungebetenen Ratschläge, die man als Neuerkrankter erhält, wird eine/r Patient*in fremd sein.

Ich finde es erleichternd zu erfahren, dass eine herausfordernde Lebenssituation auch einem Schreiberling vom Grad Herrn Luiks Eloquenz und Stilsicherheit raubt und er „hilflos vor dem Computer [sitzt, weil] so viele Gedanken in [seinem] Kopf sind” und er sich fragt: „Wie strukturiere ich, was in meinem Kopf herumtollt? Mit was fange ich an?”. Wenn er stichwortartig aufzählt, welche Chemonebenwirkungen ihn beeinträchtigen oder er in manchen Sätzen mit zwei oder drei Worten auskommt, dann zeigt das wie sprachlos eine solche Diagnose eine/n jede/n machen kann. Die dialektal eingefärbten Stellen im Buch versöhnten mich als gebürtige Schwäbin mit ein paar unflätigen Sätzen, in denen er von einem „Mistviech“, einem „ganz schönen Scheiß” schreibt oder ihm „kotzelend” ist.

Ich gebe zu: Manchmal unterbrachen die politischen Ergüsse oder die Artikel-Auszüge meinen Lesefluss etwas oder sie waren mir etwas zu lang geraten. Aber sie spiegeln den (Ausnahme-) Zustand eines Krebspatienten während einer Chemotherapie sehr gut wieder: Mal lebt man ganz im schrecklichen Hier und Jetzt, mal flüchtet man sich in die vertraute Vergangenheit, mal sucht man Zuflucht in der Außenwelt und dann ist man wieder ganz achtsam bei sich im Inneren. Und ganz viele dieser wirren Zustände erlebt man in Nächten, die sich in Schlaflosigkeit endlos lang dahinziehen.

Ich fand es rührend, wie Herrn Luiks Liebe zu seiner Ehefrau Barbara an vielen Stellen zwischen den Zeilen durchblitzte und er sie in so mancher Szene klar zum Ausdruck brachte. Es gibt Tränen und sich-aneinander-Klammern. Es ist schön, als Leserin an diesen intimen Momenten teilhaben zu dürfen.

Eindeutigen Mehrwert erlangte dieses Buch für mich, da Herr Luik immer wieder die Titel von Büchern einstreut, die er gerade liest oder Songs, die er hört und die aufgrund seiner Erkrankung plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ein Phänomen, das mir wohlbekannt ist.

Auch freute ich mich, durch die Lektüre des Buches so manches über und aus dem Leben einiger mir bekannter Prominenter zu erfahren.

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LESEPERLEN aus „Rauhnächte“

Herrlich ehrlich!

Ich meide nun Orte, wo die Wahrscheinlichkeit groß ist, Bekannte zu treffen. Bekannte, die ich nicht wirklich gut kenne, zum Beispiel Arbeitskollegen von früher, mit denen ich aber reden müsste. Ich habe keine Lust mehr auf Gequatsche.

Genauso ist es…

Als ich meine Krebserkrankung Menschen, die mir wichtig sind, bekannt machte, war die Reaktion so: Betroffenheit, ja Entsetzen, auch Trauer, und in fast allen Anrufen und Mails (…) hieß es: Ja, du packst. das. Es wird gut. Und wenn du irgendwas brauchst, wir sind für dich da. Das war schön. Jetzt, nach vier Monaten, ist es so: Mails erreichen mich seltener, Anrufe nur noch sporadisch. Und wenn, dann haben sie einen anderen Ton: (…) Hilflosigkeit (…), Sprachlosigkeit (…), Überforderung. (…).

Sprachliche Fundstücke

Terror des Zufalls = Arno Luiks Erkenntnis zu seiner Krebsdiagnose

die allerblödeste Konferenz meines Lebens =  So bezeichnet der Autor den intersdisziplinären Austausch von Ärzt*innen verschiedener Fachrichtungen über den weiteren Therapieverlauf. Das ist für ihn „eine Konferenz, die [er] nie erleben wollte, die [er] keinem wünscht.”

Wie früherwiefrüherwiefrüher…. = Manchmal ist in Herr Luiks Kopf „nichts, was sich aufzuschreiben lohnt; da wirbelt seit Stunden nur dieser eine Gedanke in einer Endlosschleife. Es soll so wieder werden wie früher. Es soll sein wie früher. ” Diesen Gedanken verkürzt er auf das Schlangenwort, das an mehren Stellen im Buch auftaucht.

Lebensgier = Die verspürt er, als er Werner Herzogs Autobiographie liest, in der „auf fast jeder Seite Wahnsinn, Tod, Verletzung, Verzweiflung, Irrsinn vorkommen. (…) Diese Lektüre verschafft [ihm] unverhofft Freude aufs Leben.”

Opossum = So nennt Barbara die Pumpe, die Arno Luik nach der Chemotherapie zwei Tage und Nächte an seinem Körper herumtragen muss. Nachteil bei diesem Spitznamen: Die Lebenserwartung beträgt nur zwei bis vier Jahre. Die liebende Ehefrau entkräftet das mit dem Satz: „Du wirst das älteste Opossum der Welt.”

Dauerdämmerhalbtraum = Zustand einer/s Chemopatienten/in der Nacht

mit Gift verseuchter Körper = Bezeichnung für seinen mit Chemomedikameten vollgepumptem Körper, dem er in einer sehr schlimmen Nacht die Tabletten gegen Schmerzen und Übelkeit verweigert, weil er einen „Horror vor Pillen” hat

Humor statt Tumor

Nun dreht sich im Kopf eine Liedzeile (….) „wie ich mir einen guten Abgang verschaffen kann.” Im Garten habe ich eine Pflanze, Eisenhut, Giftpflanze des Jahres 2005 – ob es im Internet ein Rezept gibt, wie man diesen Eisenhut zubereiten kann? essen & trinken.de? Chefkoch.de? Giftkoch.de?

Gänsehautmoment

Herr Luik präsentiert den Leser*innen die komplette Grabrede, die er für seine Schwester Doro gehalten hat, die an ALS verstarb und deren „Sterben [ihn] aus der Bahn geworfen hat“. Sein Text und vor allem der allerletzte Satz auf einem zerknitterten Zettel, den er bei seiner Schwester im Bett fand, produziert Gänsehaut: „Ich bin wertvoll!

Positive Brillengläser:

Ich habe gerade nachgezählt: Elf Menschen, sie sind evangelisch, katholisch, schließen mich in ihr tägliches Gebet ein. Obwohl ich nicht glaube – es tröstet mich, dieses Mitgefühl, das in ihrer Geste liegt.

Zum Schluss wird geträumt…

Das Buch beginnt und endet mit einem Kapitel mit der Überschrift “Merkwürdige Zeiten“. So heißt Arno Luiks Kolumne im „Hamburger Abendblatt“. Im ersten beschreibt er die merkwürdigen Zeiten in seiner privaten Welt, in der plötzlich etwas geschehen ist, „mit dem [er] nie gerechnet hatte – und doch immer Angst davor hatte.“: seiner Krebsdiagnose. Im letzten beschreibt er die merkwürdigen Zeiten in der politischen Welt, die für ihn einen „Nachtmahr“ darstellen, von „dem [er] so sehr [hofft], dass er nur ein vorübergehender Albtraum war.

Ich wünsche Herrn Luik von ganzem Herzen, dass seine persönliche Extremsituation mit einem hoffnungsfroh-positiven Schluss endet. Mögen die „Entwürfe mit erträglichem oder gar hoffnungsfroh-negativem Ende“ kommentarlos zerrissen werden. Ich hoffe, meine Wünsche kommen bei ihm an oder werden ihm überbracht. Denn wie er in seinem Buch mehrfach zum Ausdruck brachte, hält er selbst sich nicht gern in Social-Media-Internet-Bloggerwelten auf.

Doch bevor ich mich nun leise in die echte Welt zurückziehe, muss ich noch erwähnen, dass ich bis zur letzten Buchzeile darauf wartete, vom Autor zu erfahren, warum er den Titel “Rauhnächte” für sein Werk wählte.

Wie ich weiß, handelt es sich dabei um die zwölf Nächte zwischen dem 24.12. und dem 6.1. Jener besonderen Zeit “zwischen den Jahren”, die sich manchmal etwas unwirklich anfühlt und einem Stopp im Alltagstrubel bietet. Dem Brauch nach laden diese Nächte dazu ein, zurückzublicken auf die vergangenen zwölf Monate sowie in sich zu gehen und sich mit seinen Wünschen zu beschäftigen. Aber durchaus auch einen flüchtigen Blick auf die Zukunft zu werfen.

Übertragen auf einen Mann, der während seiner Krebstherapie Tagebuch führt und dabei von seiner krebsgeprägten Gegenwart, seiner Kindheit sowie Ideen für die (weltpolitische) Entwicklung schreibt, eine durchaus passende Titelwahl, wie ich finde. Ob ich mit meiner Vermutung richtig liege, kann Herr Luik mir ja ggf. bei einem Interview für #annettefragt verraten?

Bis dahin träume ich für ihn und mich von einer gesunden Zukunft…

Mal sehen, wo das alles endet. Imagine all the people/Livin´ life in peace! You../You mag say I´a dreamer. Aber nicht der Einzige. Hoffentlich nicht.
- Schlusswort in „Rauhnächte“ von Arno Luik

 

Mehr über den Autor

Arno Luik im Interview zu seinem Buch „Rauhnächte“ bei RBB-Radio

Auszug aus dem Buch „Rauhnächte“ auf Focus.de

Arno Luik in einem Interview auf SWR2

Artikel über Arno Luik und seine Krebserkrankung im Hamburger Abendblatt

Arno Luik auf der Homepage des Westendverlags

Hier geht’s zu meiner Krebs-Bestsellerliste mit den Links zu den anderen Rezensionen.

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Foto aus dem Buch "Rauhnächte", fotografiert von Andreas Herzau

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