Annette fragt… Sarah Hildebrand alias Goldnarbenmädchen
In der Instagram-Welt stieß ich auf einen Account mit dem Namen „Goldnarbenmädchen“. Ich liebe solche Wortkreationen und wollte unbedingt wissen, was für ein Mensch sich hinter diesem wundervollen Namen versteckt. Es ist Sarah Hildebrand, 36 Jahre alt. Sie bekam 2010 eine Brustkrebsdiagnose und wurde elf Jahre später von einer zweiten Diagnose überrascht.
Freut euch auf ein offenes, ehrliches Interview mit einer wunderschönen, starken Frau. Bühne frei für Sarah:
Annette: Liebe Sarah, deine erste Diagnose traf dich im Jahr 2010. Wie alt warst du damals, wie sah dein Leben aus?
Sarah: Ich war damals 23 und mitten in meinem Masterstudium. Zum Zeitpunkt der Diagnose war ich gerade vier Wochen frisch liiert, habe viel Sport gemacht, hatte mehrere Nebenjobs neben meinem Studium und habe viel Zeit mit Freundinnen verbracht.
Annette: Du warst elf Jahre krebsfrei. Konntest du in dieser Zeit ein sorgenfreies Leben führen oder warst du immer in einer Art Habachtstellung, weil du Angst vor einem Rezidiv oder einer Neuerkrankung hattest?
Sarah: Die ersten drei, vier Jahre waren wirklich schwierig für mich. Nach den Nachsorgen konnte ich immer wieder gut aufatmen, aber je näher der nächste Termin rückte, desto schlimmer wurde es für mich. Da war ich unglaublich überwältigt von Angst.
Ich glaube ich brauchte auch erstmal eine ganze Zeit, um überhaupt zu realisieren, was da mit der Diagnose alles passiert ist. Auch die Partnerschaft mit meinem damaligen Freund endete mit Ende der Akuttherapie. Da musste erstmal sehr viel heilen. Herz, Körper und Seele brauchten ihre Zeit.
Dann gab es aber irgendwann so nach ca. 5 Jahren den Punkt, an dem ich wieder mehr Vertrauen ins Leben und meinen Körper gefasst habe und einfach „losgelebt“ habe. Ab da waren die Nachsorgen auch überwiegend frei von Sorge und eine Art Routine, vor der ich mir keine großen Gedanken mehr gemacht habe. Für mich war das nur noch ein „Sicherheits-Check“.
Annette: Nachdem du deine zweite Diagnose erhalten hast, hast du dir einen Instagram-Account eingerichtet. Wie kamst du zum Entschluss, deine Krebserkrankung in der Öffentlichkeit auszuleben?
Sarah: Nachdem ich den ersten Schock der Diagnose verdaut hatte, war für mich irgendwie einfach klar, dass ich meinen Weg und vor allem mein Wissen teilen möchte. Ich dachte mir, wenn ich das jetzt hier schon zum zweiten Mal durchmache, kann ich anderen Betroffenen vielleicht ein bisschen Mut schenken und mit ihnen gemeinsam durch diese harte Zeit gehen.
Gerade in der ersten Erkrankungszeit hatte ich so häufig das Gefühl, allein zu sein mit den ganzen Themen, die einen als Erkrankte so beschäftigen. Das wollte ich für andere und mich ändern.
Annette: Ich liebe Wortschöpfungen und das Wort „Goldnarbenmädchen“ schafft es definitiv auf die Liste der schönsten Wörter, die ich kenne. Wie kam es zu diesem Namen?
Sarah: Erstmal lieben Dank für deine Worte zu meinem Accountnamen. Das ehrt mich sehr.
Wie es das Schicksal manchmal so hinbiegt, war ich am Tag nach meiner Diagnose seit Ewigkeiten mal wieder bei Facebook und mir wurde ein Post vorgeschlagen, in dem es um “Kintsugi” ging. Dabei handelt es sich um die japanische Methode, zerbrochene Gegenstände mit Gold wieder zusammenzufügen. Der vermeintliche Makel wird so als einzigartiger Teil seiner Geschichte hervorgehoben und verleiht ihm noch mehr Schönheit. Die Message in dem Post war „Denk daran, wenn du dich zerbrochen fühlst“. Ich habe davon einen Screenshot gemacht.
Als ich mich nach meiner zweiten OP im Spiegel ansah und die Narben anschaute, erinnerte ich mich wieder an den Post. Ich habe dann für mich beschlossen, dass ich meine vorhandenen und folgenden Narben auch aus dieser Perspektive betrachten möchte und werde. Damit war der Accountname quasi geboren.
Annette: Obwohl du zweimal an Krebs erkrankt warst, strahlst du eine außerordentliche Lebensfreude und innere Zufriedenheit aus. Woher schöpfst du Kraft?
Sarah: Ich habe schon vor der Diagnose viel Yoga gemacht und für mich eine Dankbarkeitspraxis entwickelt, um mich selbst täglich daran zu erinnern, dass es unheimlich viele kleine Dinge am Tag gibt, die schön sind und das Leben so lebenswert machen. Yoga und Meditation lassen mich auch unheimlich viel Kraft schöpfen. Spaziergänge in der Natur, Radfahren, in Ruhe einen Tee trinken und vor allem schlafen liebe ich, um wieder aufzutanken, aber auch Zeit mit meinen Lieblingsmenschen verbringen und das Lachen mit ihnen.
Annette: Du bezeichnest deine Chemotherapiesitzungen als „Wasserfalldates“. Wie kamst du darauf und was bedeutet das für dich?
Sarah: Dazu muss ich kurz ein bisschen ausholen. Ich habe die Chemotherapie-Medikamente während meiner ersten Erkrankung immer als “Rohrfrei” bezeichnet und wollte die ganze Akuttherapie einfach nur schnell hinter mich bringen. So richtig verstanden und realisiert, was da eigentlich passiert, habe ich in der Zeit nicht. Vor allem nicht, dass die Therapie ja eigentlich etwas Gutes für mich ist, das mich gesund macht bzw. machen soll.
Das wollte ich dieses Mal anders handhaben. Mir war es wichtig, die Medikamente und die Verabreichung als etwas Positives zu sehen, als Heilung für mich. Eine Freundin hat immer gesagt „Heilung ist auf dem Weg.“
Meditation hat mir zusätzlich schon bei den ganzen Untersuchungen im CT, MRT und Co. geholfen, abzuschalten und keine Angst zu haben. Deshalb habe ich überlegt, wie ich es für mich während der Chemotherapiesitzungen gut gestalten kann. Da lag Meditation nahe. Bereits vor der Erkrankung habe ich öfter die Wasserfallmeditation von Laura Malina Seiler gemacht. Dort stellst du dir vor, dass ganz klares reinigendes Wasser von der Spitze deines Kopfes, durch jede einzelne Zelle deines Körpers fließt. Das fand ich unheimlich passend für die Chemotherapie. Also habe ich bei jeder Sitzung, sobald es losging, die Meditation angehört und mir vorgestellt, wie das goldglitzernde Medikament durch jede Zelle meines Körpers fließt und mich heilt.
Der zweite Teil in Wasserfalldate bezieht sich auf „Ein Date mit dem Leben“. Dates sind für mich positiv besetzt: Dates mit Freunden oder dem Partner, zusammen eine schöne Zeit haben. „Sitzung“ hat so etwas unheimlich Formalistisches, Bürokratisches. Das hat für mich nicht gepasst.
Also sind es letztlich die Wasserfalldates geworden. Die heilenden Dates mit dem Leben.
Annette: Du hast während deiner Therapiezeit jeden Sonntag einen Spruch gepostet und deine Gedanken dazu aufgeschrieben. Wie kamst du auf die Idee zu diesem „Sunday reminder“ und welche Intention steckt dahinter? Hast du vielleicht einen Lieblingsspruch?
Sarah: Mein Gedanke war, dass es bestimmt die eine oder andere Person gibt, die ein bisschen Aufmunterung und auch mal Gedanken aus anderer Perspektive als Impuls wertvoll findet.
Da Sonntage häufig mit wenig Terminen gefüllt sind und man vielleicht eher mal Zeit hat, ein bisschen in Social Media zu stöbern oder den eigenen Gedanken nachzugehen, habe ich mir diesen Wochentag ausgeguckt.
Ich selbst lese solche Impulse gern, da sie mich dazu anregen, Situationen auch mal anders zu betrachten und für mich zu hinterfragen. Klar findet man auch viele „Glückskeks-Sprüche“, aber gerade die Posts von der Seite „Ein guter Plan“ inspirieren mich sehr.
Mein eigener Lieblings “Sunday Reminder” ist
„Nein. Ist ein vollständiger Satz.“
Warum? Weil ich, wenn ich so zurückschaue, eigentlich schon seit meiner Kindheit, ein Problem mit der Grenzziehung anderen gegenüber habe. Meine Eltern haben mir das nie beigebracht und sind selbst dauerhaft über meine Grenzen getrampelt, was es als Kind und gerade als Erwachsener nicht leichter machte.
Auch Krebs ist übrigens eine grenzüberschreitende Krankheit, die die Grenzen der Nachbarzellen nicht wahrt. Darüber, das jetzt aus küchenpsychologischer Sicht zusammenhängt, kann man sich streiten. Fakt ist aber, dass es mit der Diagnosestellung unheimlich wichtig ist, seine Grenzen klar zu kommunizieren. All die ungefragten Ratschläge und Meinungen von außen z.B. können eine unheimliche Belastung darstellen.
Deshalb finde ich es wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass es wichtig ist, Nein zu sagen und dass man sich nicht rechtfertigen muss:
„Bitte gib mir keine Ratschläge, ohne dass ich dich frage. Und Punkt.”
Das hat für mich auch ganz viel mit Selbstfürsorge zu tun, die so wichtig ist in einer solchen Ausnahmesituation.
Annette: Wie du selbst mal geschrieben hast, „scheint [auch dir] die Sonne nicht 24/7 aus dem Popo“. Das ist klar. Aber du hast du ein paar hilfreiche Tools zusammengestellt, wie man sich in dem ganzen Krebs-Mist an vielen Tagen durchaus seine Positivität und den Humor behalten kann. Würdest du ein paar davon hier preisgeben? Das ist für andere Betroffene oder gerade auch Frauen, frisch erkrankt sind, sicherlich megahilfreich!
Sarah: Ja, gerne! Also erstmal möchte ich sagen, dass ich von diesem „Good Vibes only“ so gar nichts halte. Alle Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung.
Meine Tipps sind:
- Wenn du einen richtig bescheidenen Tag hast, stell dir einen Wecker auf 5 Minuten und dann motz dich so richtig aus. Schreibe, male oder schrei alles raus (z.B. in ein Kissen), was du ätzend findest. Lass es einfach raus. Ungeschönt und ungefiltert.
- Oder weine für 5 Minuten, wenn dir danach ist. So richtig. Mit Schluchzen und allem Zipp undZapp. Nach 5 Minuten ist dann Schluss. Die zeitliche Begrenzung hilft, in dem Gefühl nicht dauerhaft zu versinken.
- Was du noch machen kannst, ist ein “Dankbarkeits-Checkin” am Morgen. Wenn du aufgewacht bist, überlegst du dir drei Sachen, für die du heute dankbar bist. Das könnte beispielsweise sein, dass du wieder aufgewacht bist, dass du Ohren hast, um das schöne Vogelgezwitscher zu hören oder für deinen Partner/in, deine Familie, dein Haustier.
- Du wirst nach einiger Zeit regelmäßiger Dankbarkeitspraxis merken, dass dir immer mehr Dinge einfallen und dass es sich positiv auf deinen Start in den Tag auswirkt.
- Mach außerdem jeden Tag eine kleine Sache nur für dich. Was dich glücklich macht und dich dich gut fühlen lässt. Es muss nichts Großes sein. Häufig sind es Dinge, die sehr niedrigschwellig sind – Vielleicht eine Gesichtsmaske auflegen, einen leckeren Tee trinken, einen kurzen Spaziergang machen, ein Tier streicheln, dir deine Lieblingsblumen kaufen, deinen Körper zu dehnen oder eine Person anrufen, die dir gut tut und dich zum Lachen bringt. Das kann schon so viel verändern.
Annette: Ich selbst habe einen Blogtext zu den Kampfmethaphern geschrieben, denen man als Krebserkrankte immer und immer wieder begegnet. Daraufhin habe ich sehr viel positives Feedback andere Betroffener erhalten. Du hast auch einen wunderbaren Post zu diesem Thema verfasst. Kurz und knackig: Was hast du zur Krebs-Kampf-Methaphorik zu sagen?
Sarah: Für mich passt diese Metapher überhaupt nicht, da mir da immer sofort der „Sie hat den Kampf gegen den Krebs verloren“ Satz in den Sinn kommt.
Für mich gibt es keine Gewinner*innen und Verlierer*innen in diesem Kreis der Betroffenen! Da gibt es kein besser und schlechter. Wenn man auch in dieser Situation noch den “guten deutschen Leistungsmaßstab” ansetzt, wo kommen wir denn da hin? So eine Erkrankung ist ja kein Wettrennen.
Wenn wir mal dabei bleiben – der oder diejenige, die den Metastasen nicht schnell genug davon gelaufen ist, nicht positiv genug war usw. ist dann der Verlierer oder die Verliererin? Hat halt selbst schuld? War nicht stark genug? Und bekommt dann denn Verlierer-Stempel aufgedrückt?
Ich finde das wird den Personen in einer solchen Situation nicht gerecht!
Sarah: Wie die meisten Ideen, die ich habe, kam mir der Gedanke unter der Dusche.
Mehr über Sarah findet ihr hier:
Sarahs auf Instagram
Sarah zu Gast bei Kendra Zwiefka im Podcast „Krebs als zweite Chance“
Sarah im Live-Interview zum Thema „Mastektomie“:
Sarah im Gespräch zum Thema „Selbstfürsorge und mentale Gesundheit in Krisenzeiten“
Sarah im Insta-Live mit Ines Schult (Brustkrebs-Karussell) zu allerlei Fragen rund um die Diagnose „Brustkrebs“
Sarahs und Ines´ Podcast “Konfetti und Krebs” bei spotify und und auf You-Tube
Hier geht’s zu den anderen schon veröffentlichten Interviews aus der Reihe “Annette fragt…”