Erleichterung vs. Belastung
Annette fragt… Marie Nett
Während meiner Chemozeit stolperte ich über den Account von Marie Nett, die ihre Brustkrebsdiagnose ein paar Monate nach mir erhalten hatte. Ich war mir sicher: Hinter den kunstvollen Fotos, die sie unter ihrem spaßigen Profilnamen “Krebs und Hummer” postet, steckt ein kreativer Kopf und eine interessante Frau, die ich gerne näher kennenlernen wollte.
Marie ist 40 Jahre jung, Mutter von drei Kinder mit zwei Schwangerschaften und Art Director in einer Gin Company. Sie ist Teilzeit-Vegetarierin, Berglover und wunderhübsche Chemolockenträgerin.
Freut euch auf unser Interview, in dem Sport und Kunst tragende Rollen haben.
Annette: Liebe Marie, mein Tumor war ein Zufallsfund bei der Krebsvorsorgeuntersuchung. Wie war das bei dir?
Marie: Ich bemerkte auf einmal einen kleinen, harten Knubbel, den ich anfänglich ignorierte. Aber er machte Tag und Nacht mit einem schmerzenden Pochen aufmerksam auf sich. Ich ließ es dann zwei Wochen, nachdem ich das erste Pochen gefühlt habe von der Frauenärztin überprüfen. Und zack! ab diesem Zeitpunkt ging alles wahninnig schnell. Da war ein 1,2 cm großer Tumor, der rasant wachsen wollte. Kein weiterer Befall.
Der Schock war riesengroß…. Drei Wochen später saß ich das erste Mal auf dem Chemostuhl…
Annette: Ich habe mich in Vorbereitung auf dieses Interview durch dein Instagram-Profil gescrollt. Bis zum 18.3.2022 trittst du selbst nie in Erscheinung, sondern man sieht man viele, viele kunstvolle Fotos oder wie du sie nennst „visuelle Schmankerl“. Dich selbst sieht man darauf nie. Doch dann hast du dich dazu entschieden, „Instagram für deine sehr persönliche Erfahrung zu nutzen“, wie du schreibst. Wie kam das? Welchen Nutzen hast du während deiner Erkrankung durch Social Media gezogen?
Marie: Der Kanal diente zunächst dazu, meine Freunde und Familie auf diesem steinigen Weg mitzunehmen. Es sollte eine Art Tagebuch meiner Gefühle und Gedanken werden. Ein Tagebuch für mein Umfeld. Da ich beruflich und privat gerne schöne Bilder kreiere, fiel meine Wahl schnell auf Instagram als Plattform für mein Tagebuch.
In der Nacht der Diagnose versuchte ich mich, mit dem Hashtag „Brustkrebs“ auf Instagram außerhalb des Ärztejargon zurechtzufinden. Ich saugte die Texte und Bilder auf zahlreichen Krebsprofilen auf, wo über Therapien, das Leben nebenher und die vielen Gedanken und Ängste drumherum geschrieben wurde.
Ich habe in dieser Nacht aber auch viele humorvolle Texte gelesen und war so dankbar für die Menschen, die so offen mit der Krankheit umgegangen sind.
Die ersten Gespräche mit anderen Betroffenen habe ich durch das Buusenkollektiv bei einem der Titti Talks – die ich an dieser Stelle von Herzen gerne empfehle – erlebt.
Klar, danach habe ich auf Instagram noch nach vielen weiteren Damen gesucht und mich mit ihnen verknüpft.
Sideinfo: Steff und Rhea vom Buusenkollektiv waren auch schon mal bei mir im Interview! Lest gern mal rein. Sie haben Interessantes zu erzählen.
Annette: Ich selbst war vor meiner Erkrankung schon sportlich unterwegs und habe mir auch durch den Krebs meinen Sport Bewegung nicht nehmen lassen. Du selbst kommst vom Triathlon und hast – wahnsinnig oder einfach nur genial? – 2012 den Ironman in Frankfurt absolviert. Respekt, Respekt! In einem Post schreibst du „Meine beste Therapie während der Therapie ist der Sport. Welche Bedeutung hatte der Sport für dich?
Marie: Ja, der Ironman… Ehrlich gesagt, weiß ich heute nicht mehr, wie ich das geschafft habe.
Ich habe bis heute so schöne Erinnerung an diesem Tag. Ich bin mit einer Vereinskollegin gestartet. Am Start um 6:30 Uhr schien die Sonne über den See, wir waren schon im Neopren, die Füße zum Einschwimmen im Wasser. Wir wussten in wenigen Minuten geht es endlich los: 3,8 km Schwimmen, 180 Km Radfahren und 42 km laufen. Wir schauten uns an und weinten erst einmal vor Vorfreude. Und es war wirklich ein schönes Erlebnis.
Wie du, Annette, war ich vor der Krankheit immer schon sportlich und während der Therapie war die Bewegung ein wichtiger Bestandteil meines Tagesablaufs. Der Sport schaffte es immer wieder, mich selber zu spüren und meine Grenzen auszuloten.
Die ersten Wochen bin ich mit dem Rennrad zur Chemo gefahren (zurück wurde ich meistens mit dem Auto abgeholt). Ich hatte das Gefühl, mich mit dem Sport selbst im Griff haben zu können, zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich in Hände anderer begeben musste.
Es gab allerdings auch viele Tage und Wochen, an denen ich nicht mehr vom Sofa aufgestanden bin. Ich lag wie eine Cashewnuss eingerollt und schaffte ehrlich gesagt ansonsten überhaupt nichts mehr. Auf einmal waren kleine Bewegungsabläufe mein neuer Sport. Auch das musste ich erst einmal lernen.
Annette: Für mich waren der Haarausfall und die Glatze keine große Sache. Von einer langen Wallemähne habe ich mich schon vor Jahren verabschiedet. Wenn man sich dein Profil genauer anschaut, erkennt man, dass das Haarthema für dich ein sehr wichtiges war und ist. Man sieht dich mit langen und kurzen Haaren, mit Kühlkappe, eine Bürste voller Haare, aktuell mit wahnsinnig tollen (Chemo-) Locken. Du hast auch mal etwas zum Spruch „Es sind ja nur Haare“ geschrieben, die es für dich definitiv „nicht nur“ sind. Anscheinend war die äußerliche Veränderung durch den Krebs für dich prägend. Was hat das mit dir gemacht?
Marie: Ja, du hast Recht. Es war ein Thema. Allerdings nicht so groß, wie es auf meinem Account den Anschein hat. Der Haarausfall ist nur das plakativste Indiz für unsere Therapie und dadurch war es ein Thema, was ich leichtfüßiger rausposaunen konnte als manches andere Krebs-Thema. Meine Ängste und Panikattacken konnte ich schließlich nicht so gut bebildern….
Ich habe erst vor ein paar Tagen ein Bild von mir mit raspelkurzen Haaren gesehen und war ehrlich gesagt geschockt. Ich habe mich in dieser Zeit gar nicht mehr im Spiegel angeschaut. Dadurch war es irre seltsam, nun dieses Foto von mir zu sehen. Es fühlt sich an wie eine andere Marie. Und ja, von glatt, langhaarig, auf kurz und jetzt lockig ist eine große Umgewöhnung für mich. Aber jede Phase hatte tatsächlich was für sich.
Du, Annette, hattest früher schon „Charakterhaare“ und hast sie passenderweise wieder. Es sieht einfach gut aus, wie ich finde.
Annette: Oh, vielen Dank dir! Jetzt werde ich rot und meine Haare kräuseln sich vor Freude, hihi….
…
Du bist wie ich Dreifachmama. Meine Kinder zum Zeitpunkt meiner Diagnose 11, 9 und 3 Jahre alt. Deine Drei waren zur Therapiezeit allesamt Kleinkinder. Wie habt ihr deine Erkrankung in euren Familienalltag integriert? Habt ihr mit den Kindern darüber gesprochen?
Marie: Meine Kinder waren 2 x drei und fünf Jahre alt. Mein Mann und ich waren damals gerade an einem Punkt, an dem wir als Eltern zum Aufatmen kamen. Die Kinder schliefen endlich durch, man konnte sich immer besser mit Worten verständigen. Ja, es schien gerade bergauf zu gehen.
Aber dann kam die Diagnose.
Kinder spüren ja sowieso immer, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb haben wir von Anfang an offen, aber kindgerecht, über meine Krankheit gesprochen. Die Zwillinge haben das mit ihren drei Jahren alles überhaupt nicht recht verstehen und begreifen können. Völlig klar.
„Mama ist krank und braucht jetzt Medizin, die mich müde machen wird“, war der erste Satz an meinen Großen. Und dann versuchte ich ihm möglichst ehrlich zu erzählen, wie es mir ging und was mit mir geschehen würde: „Mama ist traurig darüber, aber die Ärzte wissen ganz genau was sie für mich machen müssen. „Es gibt da eine Zelle, die Mist gebaut hat. Die muss jetzt mit der Medizin weggemacht werden“.
Mein Mann Markus und ich waren am Anfang der Therapie auch bei einer Krebsberatung an der Uniklinik Bonn, die sich auf solche Familienkrisen spezialisiert haben. Der Termin half uns, weil wir darin bestätigt wurden, genauso so offen weiterzumachen.
Mein ältester Sohn (damals fünf Jahre) zeigte ziemlich schnell starke Stresssymptome. Er lutschte immer an seinem Kragen seiner T-Shirts und Pullovern. Auch das haben wir versucht, mit viel Geborgenheit und Gesprächen und Offenheit in den Griff zu bekommen. Dazu haben wir noch Gespräche mit einer Kinderpsychologin gehabt, die uns auch etwas Klarheit gab.
Ab dem Zeitpunkt, als es mir merklich besser ging, hörte das Stressverhalten meines Sohnes glücklicherweise auf.
Annette: In der Uniklinik in Bonn hängen Werke, die Brustkrebspatientinnen während der Chemotherapie gemalt, kreiert und gestaltet haben. Du selbst warst als Studienteilnehmerin bei einem kunsttherapeutischen Angebot dabei. Erzähl uns mehr davon, das hört sich super spannend an!
Marie: Das war es. Eine Freundin (unter dem Profilnamen Ponyhut auf Instagram zu finden), die ich ziemlich am Anfang der Erkrankung über Instagram kennengelernt habe, hatte mich darauf hingewiesen. Angemeldet und ja, dann war ich dabei.
Es gab acht Sitzungen mit sechs weiteren Patientinnen. Es war eine willkommene, schöne Reise während der Therapie. In vielen Sitzungen ging es gar nicht nur um das Malen und Ausdrücken in Form und Farbe. Es ging um so viel mehr: um Anerkennung, das ungefilterte Verständnis füreinander und um den Support. Viele der Teilnehmerinnen waren nicht so gut vernetzt wie ich und erlebten den direkten Austausch im Therapieraum als sehr heilsam.
Ich persönlich genoss es so sehr, aus dem Familien- und Krebsalltag auszubrechen und mir meine Zeit für mich zu erlauben. Es fühlte sich an wie ein Kokon inmitten einer lauten Welt.
Annette: Leider können wir Krebsbetroffene wohl nie vor einer erneuten Erkrankung sicher sein und müssen leider auch miterleben, wie andere Erkrankte sterben. In einem wundervollen Post erzählst du von deinem „Kopfgeist“, in einem anderen sprichst du vom „Gedankenpingpong“. Es geht um dein verlorengegangenes Vertrauen in deinen Körper und deine Ängste, die immer wieder aufploppen. Welche Strategien hast du für dich gefunden, um (halbwegs) mit deinen Ängsten klarzukommen?
Marie: Mein Kopfgeist ist mittlerweile ein enger Freund geworden. Nicht immer willkommen, aber lieber einen Freund an der Seite als einen Feind. Er gehört einfach dazu.
Manchmal ist er glücklicherweise abgelenkt und nicht mehr so laut und spürbar an meiner Seite. Aber manchmal ist er sehr penetrant und nervig.
Die intensiven Phasen mit den Ängsten erlebe ich vor allem vor Untersuchungen und ja, wenn Krebsgeschichten ein Ende gefunden haben. Wir Betroffenen kennen es leider alle… Damit wird mein Kopfgeist gefüttert und gemästet.
In diesen turbulenten Phasen ziehe ich mich zurück, weine viel und versuche meine Oasen aufzusuchen. Es gibt da zum Beispiel eine Bank auf einem Berg bei uns in der Heimat. Da suche ich den Blick in die Weite und versuche einfach zu atmen. Es klingt so einfach und das ist es auch. Eine andere Oase ist ein architektonisches Meisterwerk in Köln: das Museum Kolumba. Dieser Ort gibt mir immer so viel Ruhe und Boden. Irgendwie habe ich meine Me-Momente gefunden und versuche, mich damit zu beruhigen und abzulenken.
Annette: Ich arbeite mittlerweile wieder als Grundschullehrerin. Auch du bist wieder zurück in deinem alten Job. Bist du gleich wieder voll eingestiegen? Konntest du dich sofort wieder aufs Arbeiten einlassen oder erlebst du dich anders als vor deiner Erkrankung?
Marie: Ich bin Art Directorin für eine Gin Company. Ich arbeite 75% und könnte mir bald auch eine Aufstockung vorstellen. Die Arbeit gehört auch zu meinem persönlichen Ausgleich.
Ich sage immer wieder gerne, dass ich in einer Zuckerwattenwelt arbeite.
Hihi, du weißt, ich bin Fan solcher Wortschöpfungen. Da tun sich gleich viele Assoziationen in meinem Kopf auf!
Mein Team ist herrlich menschlich, sehr nett und die Aufgaben und Themen leichtfüßig und meistens bunt. Ich genieße diese komplett andere Welt, in der Krebs keine Rolle spielt, sehr.
Ganz plump könnte man über meinen Job sagen: „Ich mache Werbung“. Etwas tiefgründiger wird das Ganze, wenn ich sage: „Ich kreiere Good-feel-Moments für die Außenwelt.“ Wie schön, oder? Vor allem nach dieser schweren Kost im Leben!
Annette: Ja, du hast recht wunderschön und schicksalhaft irgendwie.
Marie: Ach ja: Wir produzieren übrigens auch alkoholfreie Produkte, was mir auch nach der Erkrankung noch wichtiger geworden ist.
Annette: Im Leben nach Krebs, wenn der Alltag einen wieder überrollt, rutscht die Zeit für sich selbst oft hintenüber. Du kamst durch den Hashtag #streakrunning dazu, täglich mindestens eine Meile zu laufen. Aktuell postest du unter dem Hashtag #motivationschallenge deine tägliche Bewegegungseinheit. Hast du Tipps, wie man es schafft, mit recht wenig Druck, jeden Tag etwas ins Schwitzen zu kommen?
Marie: Da sagst du was so Richtiges: „Mit recht wenig Druck“. Das ist so wichtig. Man muss sich das mit der Bewegung vornehmen. Ganz bewusst: „Ich werde diese Woche 5 x 1,6 km auf dem Feldweg laufen“. Dann klappt es besser. Am besten legt man sich die Sportklamotten am Abend schon zurecht, damit man an sein Vorhaben erinnert wird.
Die Kunst ist, sich trotzdem nicht unter Druck setzen zu lassen und keine allzu großen Leistungserwartungen an sich selber zu stellen. Lieber weniger, lieber langsam, dafür aber regelmäßig. Es geht nicht um irgendwelche Zeiten oder um die längste Strecke. Es geht um die Regelmäßigkeit.
Deshalb ist mein Tipp: 1,6 km joggen am Tag. Das macht 7 X 15 Minuten in der Woche. Die sind doch eigentlich IMMER drin, oder? Dafür aber jeden Tag. Und schon ergibt das e11,2 km in der Woche. Das sind sicherlich mehr Kilometer, als man in manch anderen Wochen mit vielen Ausreden schafft, oder?
Aber wie schon gesagt, es geht nicht um die Kilometer. Es geht darum, dass der Körper jeden Tag eine feine Zellerneuerung durch Sport bekommt.
Annette: Kleiner Tipp von mir am Rande: Schickt Marie gerne eine Foto von euch beim Sporteln. Verlinkt sie und setzt den Hashtag #motivationschallenge. So können wir uns alle täglich zu mehr Bewegung motivieren.
…
Zum Schluss noch, liebe Marie: Was hättest du am Anfang deiner Krebsreise gerne gewusst, das du anderen betroffenen Frauen jetzt mit auf den Weg geben möchtest?
Marie: Schöne Frage…. Aber darüber muss ich erst nachdenken…
Annette: Liebe Marie, dein Nachdenken hat sich gelohnt. Die Antwort auf die letzte Frage setze ich als Zitat ganz nach unten. Sie ist ein herrliches und mutmachendes Schlusswort, danke dir dafür und für dieses schöne Interview.
Alles, alles Gute dir auf deiner weiteren Lebensreise! Ich freu mich, wenn ich via Instagram ab und zu daran teilhaben darf und wir weiterhin Sprach- und Textnachrichten austauschen.
Mehr von Marie findet ihr hier:
Marie auf Instagram
Hier erzählt Marie von ihrer Zeit in der Reha in Scheidegg im Allgäu
Interview über Marie und die Kunsttherapie
Hier geht’s zu den anderen schon veröffentlichten Interviews aus der Reihe “Annette fragt…”